Sie und ich sind Menschen. Auch wenn wir den Eindruck haben, dass wir mehr als eine Person sind oder zumindest spielen, sind wir doch einer. Es gibt uns nur einmal. Wir haben nur ein Leben, nur einen Körper, nur ein Gehirn mit Denkfähigkeit. Für uns selbst sind wir absolut. Da gibt es keinen Kompromiss.
Wir leben in der Welt und viele andere Menschen leben neben und mit uns. Unser Körper allein in dieser Welt wäre wie ein Baum. Er wäre physisch da, aber unser Denken ermöglicht uns eine zusätzliche Form des Daseins, eine Form des Austausches mit der Welt und den Menschen um uns herum, die der Baum nicht hat.
Für diesen Austausch braucht es in unserem Gehirn, in unserem Denken, Bilder und Gedanken, eigentlich Abbilder wie Fotos und Gedanken wie Beschreibungen unserer Sinnesempfindungen (fühlen, sehen, hören, riechen, schmecken).
In dieser Art und Weise leben wir in der Familie, arbeiten wir und forschen wir.
Der deutsche Idealismus, eine nachchristliche Philosophie, hat Ideale in Hülle und Fülle definiert. Nehmen wir Herrn Hegel, der das „Wissen“ als etwas Absolutes und Objektives ansah oder Herrn Kant, der die „reine Vernunft“ beschrieb. Der deutsche Idealismus hat den deutschsprachigen Raum sehr intensiv geprägt. Viele Begriffe wie „Freiheit“, „Gerechtigkeit“, „Gleichheit“ oder „Gleichberechtigung“, „Moral“ und viele andere definieren wir seitdem in dieser idealistischen Form. Zu jedem dieser Begriffe gibt es nun Theorien zur Definition und Beschreibung, die Bücher und ganze Bibliotheken füllen. Und diese Ideale gelten natürlich für alle auf der Welt, auch für die, für die sie nicht gelten, weil sie den deutschen Idealismus gar nicht kennen.
Aus diesem Kessel von Überlegungen, wie wir und die Welt um uns herum funktionieren, haben wir auch unsere Form des Verständnisses und des Umganges mit „Wissen“ geschöpft.
„Wissen“ fassen wir als etwas Absolutes auf, natürlich als etwas erstrebenswertes und etwas gutes. Wenn wir heute unsere Welt beobachten, Studien durchführen, teure und präzise Forschung betreiben, dann ist das, was am Ende herauskommt, nach unserer Auffassung „Wissen“.
Jetzt in der Corona-Pandemie (aber das gilt sonst in geringerem Masse auch) kommen täglich neue Ergebnisse in den Zeitungen, Mails, Plattformen und Berichten. Nicht selten widersprechen sich Meldungen noch am gleichen Tag. Also, wer uns da sein „Wissen“ präsentiert, den fragen wir doch am besten gleich einmal, ob er schon einmal nachgedacht hat, was „Wissen“ eigentlich ist. Schon die pure Tatsache in der Pandemie, dass wir gar nicht so mal einfach „Wissen“ sammeln können, wir wir Früchte vom Baum pflücken können (wenn welche dran sind), sollte uns vor dem Begriff ehrfurchtsvoller werden lassen. Vielleicht sollten wir eher von „Anschauung“ sprechen oder noch einfacher und gewöhnlicher sagen „Ich glaube ... (oder: Ich glaube, dass...)“?
Es ist ja durchaus so, dass manche unserer Anschauungen realitätsnäher sind, vielleicht sogar unseren Anspruch an „Wissen“, was Übereinstimmung mit der Realität (mit der Praxis) betrifft, erfüllen, aber wer kann das wissen? Wer kann schon wissen, wie gut unsere Anschauung mit dem, was wirklich ist, übereinstimmt? Natürlich sind meine Anschauungen immer realitätsnah (vereinfacht: „richtig“!). Die Anschauungen der Anderen sind auf jeden Fall realitätsferner (vereinfacht: „falsch“!). Wir täuschen uns sehr gerne darüber hinweg, dass viele unserer Anschauungen mehr oder weniger realitätsfern sind (Hier wollen wir mal nicht vereinfachen).
Noch komplizierter wird es, weil manche Anschauung beides ist, zugleich realitätsnah und realitätsfern. Es kommt darauf an, von welcher Seite wir die Dinge betrachten. Oder die Realitätsnähe variiert zeitlich und örtlich oder von Person zu Person. Von „Wissen“ zu sprechen, ist genau genommen, doch sehr unwissenschaftlich, auch wenn gerade die Wissenschaft von ihrem „Wissen“ nun wirklich absolut überzeugt ist. Wissenschaftler sind eben auch (nur) Menschen und genau nehmen wir Menschen es bekanntlich meist nur mit den Äusserungen Anderer. Mit unseren eigenen Äusserungen nehmen wir es nicht so genau.
Ich sprach oben von dem realitätsnäheren Ausdruck „Ich glaube ...“ Die gedanklichen Assoziationen, die uns mit diesem Begriff kommen, sind durchaus nachdenkenswert. Sie würden unser Weltbild verändern. Aktuell würde ich „Wissenschaft“ am liebsten umbenennen in „Anschauungsschaft“. Den Begriff hielte ich jedenfalls für realitätsnäher.
Eine Schlussfolgerung für uns in der Pandemie:
„Wissen“ dürfen wir von unseren Experten nicht erwarten. Wir dürfen hoffen, dass ihre Anschauungen realitätsnäher sind als unsere eigenen. Selbst da habe ich Gegenbeispiele. Aber das müssen wir erwarten können, sonst sind sie keine Experten. Da aber schliesst sich wieder der Kreis. Dem Begriff „Experte“ (oder auch „Wissenschaftler“) geht es ähnlich wie dem Begriff „Wissen“.
Und doch wollen und dürfen wir nicht vergessen, was wir der Anschauungsschaft (früher Wissenschaft) und Technik alles verdanken, z.B. Schutzmittel wie Gesichtsmasken und Desinfektionsmittel, aber inzwischen auch Impfstoffe. Unser tägliches Leben haben Anschauungsschaft und Technik schon in vielen Dingen sehr erleichtert (was wir bisher nicht wahrnehmen oder wahrhaben wollen: „zugleich auch erschwert“). Wir müssen zunehmend nachdenken darüber, was Anschauungsschaft (Wissenschaft) und Technik können und was nicht. Nicht unsere Wünsche sind Realität, sondern die Realität selbst. Unsere Wünsche lassen uns ja nur vergessen, dass deren Erfüllung meist irgendwo an einem anderen Ort auf dieser Welt auch Kosten und Verlust verursacht. Wir hoffen nur immer und tun alles dafür, dass das nicht in unserem Gesichtskreis passiert. Eine gern praktizierte Selbsttäuschung. Schuldzuweisungen wegen falscher Erwartungen treffen vermutlich in den meisten Fällen den oder die Falschen.
In gleicher Weise wollen wir auch den Politikern dankbar sein. Zur Überwindung einer solchen Problemsituation wie dieser Pandemie müssen wir Bürger der Politik die Freiheit schenken, unsere Freiheit einzuschränken. Wo, wenn nicht in der direktdemokratisch organisierten Schweiz dürfen wir hinterher auch hoffen, dass uns die Politiker unsere Freiheit wieder zurück schenken? Freiheit kann man nur schenken, weder erkämpfen noch verteidigen. (Sollten Sie dazu mehr lesen und nachdenken wollen, lade ich Sie freundlich ein, in „Wie können wir leben“ weiter zu lesen.)