Wissen, Glauben, Recht haben

Sie haben ein Gehirn und ich habe ein Gehirn. Wir haben auch Beide einen Körper. Mit unseren Sinnen nehmen wir unsere Umwelt wahr und auch unseren Körper, unser Aussen und unser Innen. Unser Hirn ist von unserer Umwelt getrennt. Selbst unser Körper ist einerseits eins mit unserem Hirn und doch von unserem Hirn, von unserem Ich getrennt. Wir können uns gedanklich auch uns selbst gegenüberstellen. Vielleicht glauben wir auch nur, es zu können? Woher wollen wir überprüfen, ob oder wieweit uns das gelingt? Hätten wir dafür einen Massstab?

Daraus folgt, dass wir in unserem Hirn zwar Materie haben, aber dass wir nicht in der Lage sind, die Welt oder unseren Körper in unser Gehirn aufzunehmen, sondern nur Bilder in irgendeiner Form. Das erforschen unsere Neurologen bzw. Hirnforscher, falls das überhaupt möglich ist. Meine Sinne und mit ihnen mein Hirn sind bestenfalls in der Lage ein detailgetreues Bild von der Realität um mich herum und in mir herzustellen, zu speichern und wiederzugeben. Die Realität kann mein Hirn nicht speichern, nicht einmal verändern, nicht einmal verlässlich sicher deuten. Deuten, interpretieren, verarbeiten, beschreiben, kann mein Hirn nur das wahrgenommene Bild. Nur dieses Bild landet in meinem Hirn, nicht meine Umwelt, nicht mein Körper, nicht die Realität. Aber das Bild wird in mir eine neue Realität eines Bildes.

Damit ist eigentlich klar, dass von Wissen bei mir keine Rede sein kann, sondern bestenfalls von Ansichten. Frech, wie ich bin, spreche ich das „Wissen“ auch Ihnen ab. Das ist nicht mein Wissen, sondern das gehört zu meiner Ansicht von Ihnen. Falls Sie das verletzt, bitte ich Sie um Entschuldigung und bleibe trotzdem bei meiner Ansicht. Vielleicht können wir ja trotzdem miteinander leben?

Ich wurde geboren. Es ist schon ein bisschen her. Zunächst war ich ein kleines Bündel, dass sich selbst sicher bereits wahrnehmen konnte und seine Umgebung auch, zumindest meine Mutter, später auch meinen Vater und dann immer mehr. Wahrscheinlich werde ich auch damals schon ein Bewusstsein gehabt haben, aber ob ich mir damals schon meiner Selbst bewusst war? Ich nehme an, dass es eher nicht so war und dass es sich erst langsam mit meinen Fähigkeiten entwickelte. Wenn mein Magen knurrte oder mir etwas weh tat oder Angst machte, dann brüllte ich. Ich hatte Glück. Ich hatte Mutter und Vater, die sich um mich kümmerten, wann immer mir etwas fehlte oder nicht passte. Solche Eltern sind ein Glücksfall. Ein riesiger Dank an meine lieben Eltern!

So richtig ärgern tat ich meine Eltern mit zwei bis drei Jahren, mit meiner Bewusstwerdung, dass ich doch Jemand bin, nicht Mutter, nicht Vater, sondern ich und so wurde ich trotzig und löste mich von meinen Eltern in einer Trotzphase. Ich entwickelte mein Ich. Mit meinem Ich entwickelte ich ganz schnell auch die Ansicht von mir: „Ich habe Recht!“ Mutter und Vater, wenn Ihr etwas wollt, dann müsst Ihr mich erst fragen, ob ich das will. Ich bestimme und ich habe Recht! Und es begann der Krieg zwischen meinen Eltern mit ihren Ansichten und mir mit meinen Ansichten.

Die Beiden sahen Vieles häufig etwas anders und gingen davon aus, dass sie Recht haben, dass sie wissen, wie man lebt, wie unsere Welt funktioniert und was Kindern gut tut oder nicht gut tut. Dabei entwickelte ich doch aber trotzig mein Ich: „Ich habe Recht!“ Dabei war es ganz egal, ob ich Recht hatte. Woher sollte ich das denn in diesem Alter und Zustand beurteilen können? Nein, ich hatte Recht, ganz egal, ob ich Recht hatte, also mit meiner Ansicht eine der Realität entsprechende Interpretation glaubte und vertrat. Meine Ansicht und mein Glauben und meine zunehmende Überzeugung, dass ich Recht habe, entwickelte sich also schon viel früher als meine Fähigkeit, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden und wenn es ein „richtig“ oder „falsch“ gar nicht gab, auch mit dieser Tatsache umzugehen. Mein Urteil, ich habe Recht, war also eigentlich ein zu frühes Urteil, ein Vorurteil und damit viele Urteile über Dinge und Andere auch. Ich entwickelte viele Urteile, die aber bis dahin nur Vorurteile sein konnten. Zum kritischen Hinterfragen meiner Urteile und der Urteile von Anderen war ich ja noch gar nicht in der Lage. Interessanterweise verharren Viele von uns im Grunde ihr ganzes Leben in dieser Position, weil sie gar nie anfangen, ihre eigenen Vorurteile zu hinterfragen und in der Schule haben wir vor Allem gelernt, die Ansichten Anderer zu hinterfragen, seit dem zweiten Weltkrieg auch sehr intensiv die Urteile unserer Eltern. Wir leben also oft ein Leben lang mit unseren Vorurteilen, ja lieben sie sogar und lassen sie so leicht nicht los und halten sie für wohlbegründete Urteile. Das stimmt nur wahrscheinlich gar nicht. Wir täuschen uns in uns selbst.

Allerdings haben wir auch doch eine ganze Reihe von Ansichten und Verhaltensweisen von unseren Eltern und auch anderen Menschen übernommen, Dank unserer Spiegelneurone. Sonst wären wir heute wahrscheinlich gar keine Menschen mehr, sondern irgendeine Ideenentwicklung oder es gäbe uns gar nicht.

Wenn wir uns und die Menschen so um uns herum beobachten und unser Verhalten interpretieren, dann stellen wir fest, dass dieses Vorurteil „Ich habe Recht“, „Meine Ansicht ist richtig!“ nicht nur weit verbreitet ist, sondern ich bin nicht einmal sicher, ob ich jemals einen Menschen erlebt habe, der nicht automatisch davon ausging, dass er selbst Recht hat (und in der Folge alle Andersdenkenden Unrecht). Wenn er gemerkt hätte, dass eine andere Ansicht richtig oder richtiger ist und seine eigene falsch, dann hätte er doch seine Ansicht einfach geändert und die des Anderen übernommen, oder?

So einfach ist es aber meist nicht. Bis wir unsere Ansicht ändern, muss schon eine Menge passieren. So leicht ändern wir unsere Ansicht nicht. Wir sagen viel lieber „Ich habe immer schon gesagt, dass ...“, „Seht Ihr, das habe ich doch schon immer gesagt. Ich hatte Recht und nun müsst Ihr das endlich einsehen.“ Selbst, wenn wir Recht haben oder hatten, obwohl wir gar nicht Recht hatten, blieben oder bleiben wir sehr oft bei dieser Ansicht (in unserem Empfinden, in unserem „Wissen“, denn wer Recht hat, der weiss und alle Andersdenkenden wissen nicht).

Ich gratuliere Ihnen, denn Sie erwecken in mir den Eindruck, mit der Evolution und womöglich auch mit einem Gott oder allgemeinen Sein, falls die Welt doch geschaffen worden sein sollte, so auf Du und Du zu stehen, dass die Drei Ihnen ihre Bau-, Entwicklungs- oder Schöpfungspläne in die Hand gegeben haben, damit Sie genau überprüfen können, dass Sie mit Ihrer Ansicht Recht haben. Denn woher wollten wir sonst wissen, ob wir Recht haben, wenn wir nicht den Bauplan der Welt und von uns selbst hätten? Woran sollte ich (und natürlich auch Sie) denn messen, was richtig und was falsch ist?

Wir sehen ein Bild von der Realität und interpretieren das Bild und setzen die Deutungen gedanklich in Beziehung zu uns und vielen Dingen und Vorgängen um uns herum. Aber ob unsere Deutungen stimmen, bleibt mir völlig unbekannt und da ich Sie nicht als so intensiv religiösen Menschen wahrnehme, fürchte ich, auch Sie wissen's nicht. Sie glauben nur zu wissen. Mehr geht gar nicht.

Ich bin recht überzeugt davon, dass ich nichts weiss, weil ich keinen Massstab habe, an dem ich kontrollieren könnte, ob mein geglaubtes Wissen richtig ist und zweitens weiss ich nicht, was ich nicht weiss, also ob irgendetwas mir Unbekanntes meiner Ansicht entgegensteht. Dass die Realität auch noch sehr viel grösser ist, als mein kleines Spatzenhirn und ich auch deshalb allenfalls einen kleinen Bruchteil der Realität um mich herum überhaupt wahrnehmen und damit deuten kann, kommt noch dazu. Das wird ja der Grund sein dafür, dass wir uns immer weiter spezialisieren und spezialisieren müssen und damit den Blick in die Weite und den Sinn für das Ganze immer weiter verlieren. Das lässt sich gar nicht verhindern. Dass wir immer mehr wissen wollen, treibt uns immer weiter in die Spezialisierung hinein. So wissen wir von immer weniger immer mehr, was am Ende sogar bedeuten kann, dass wir kaum noch etwas wissen und dass uns der grosse Zusammenhang verloren gegangen ist und dass wir uns zumindest in der Realität kaum noch zurecht finden. Denn dort brauchen wir auch ein Grundallgemeinwissen. Aber wer nur Allgemeinwissen hat, also weiss, was alle wissen, weiss der wirklich etwas? Ist sie oder er nicht eher ein langweilender Niemand?

Im Nachdenken über mich und viele Phänomene um mich herum, kam mir auch noch die Ansicht, dass es wahrscheinlich viel mehr geben wird, als ich wahrnehme, als ich messen kann, als ich benennen kann, als ich womöglich mit meinem Spatzenhirn überhaupt denken kann. Wir haben gar keine Chance, vor der Zersplitterung unserer vielen Ansichten zu fliehen und wir werden in der Sintflut der Daten ersaufen. Der Teufel „Wissen“, wie ihn Johann Wolfgang von Goethe im Faust beschrieb, ersäuft uns im Meer der Daten. Weniger Daten und weniger Wissen wären wohl lebensnäher?

Zum Glück habe ich seit meinem zweiten Lebensjahr immer wieder gebetsmühlenartig mir vorgesagt und vorgedacht, dass ich Recht habe und dass mir die Anderen doch mal … (da gibt es sogar verschiedene Möglichkeiten, was die mir so alles können, aber mir ist das auf jeden Fall ganz egal).

Wenn ich also immer wieder selbstkritisch mein Wissen hinterfrage, dann stelle ich nach Jahren langsam fest, das mein felsenfestes Vorurteil aus meiner Trotzphase, dass ich mit meiner Ansicht Recht habe und daher „weiss“, in den meisten Fällen eher falsch als richtig liegen dürfte. Auch das kann ich nicht an irgendeiner Vorlage überprüfen, sondern ich muss mir die Mühe machen, in viel Kleinarbeit viele Dinge um mich herum zu beobachten und viele Vorgänge in mir selbst zu analysieren und auf Widersprüche hin abzuklopfen und in Beziehung zu allem Möglichen um mich herum zu setzen. Da ist mein Menschenleben recht kurz und begrenzt.

Wenn das also mit dem Wissen und mit dem Recht haben so fragwürdig ist, dann sollten wir uns doch vielleicht darauf zurückziehen, zu sagen „Ich glaube ...“, „Ich bin der Ansicht, dass ...“, „Ich interpretiere die Vorgänge folgendermassen...“, „Ich sehe Hinweise dafür, dass ...“, „Ich halte es für möglich, dass...“, ...

Mit meinem „Wissen“ sind auch gleich alle „Beweise“ bachab gegangen, denn woher will ich wissen, dass das, was ich für einen „Beweis“ halte, nicht durch mir unbekannte Tatsachen widerlegt wird? Da habe ich doch gar keine Chance. Wenn es aber gar keine Beweise gibt, dann können wir auch gar nicht sagen, ob es Naturgesetze gibt. Wir können ja gar nicht wissenschaftlich überprüfen, ob die Aussage immer und überall so gilt. Hier, im Experiment, wo wir es überprüft haben, mag es gelten und sich auch wiederholen und „reproduzierbar“ sein, aber immer und überall? Das können wir nur glauben. Ist „Reproduzierbarkeit“ eines Testergebnisses ein Beweis dafür, dass meine Ansichten deckungsgleich mit der Realität sind, also stimmen? Dann gibt es auch gar keine evidenzbasierte Medizin, sondern nur Wissenschaftler, die glauben, dass das, was sie glauben, irgendwie bewiesen sei. (Falls Sie dazu weiter nachdenken wollen, lade ich Sie ein in meine „Anrisse“ und in „Wie leben“ in den entsprechenden Kapiteln) Dann gibt es Vieles nicht mehr. Dann können wir ganz von Vorne anfangen, neu nachdenken und unsere Auffassung von den Dingen und Vorgängen und uns selbst ganz von vorne neu …, ja was denn? Definieren? Können wir das dann noch? Da gibt es noch viel Interessantes nachzudenken. Willkommen, denken Sie mit nach.

Wenn wir natürlich von klein auf lernen, dass wir Recht haben und dass wir gut sind, dann werden wir auch immer intoleranter, denn wir haben ja Recht und die Andersdenkenden werden dann wohl automatisch nicht Recht haben und sollen ihre Ansicht dann gefälligst ändern und zu unserer Ansicht wechseln. Warum denken und handeln die nicht einfach so, wie ich mir das denke? Dann könnte die Welt doch so schön sein. Vielleicht ist das eine Selbsttäuschung? Auch die Anderen haben mit zwei bis drei Jahren gelernt, dass sie mit ihrer andersartigen Denk- und Interpretationsweise Recht haben und die denken nun von Ihnen, warum Sie nicht wie die denken und handeln. Vielleicht würde sogar mehr Frieden entstehen, wenn Sie und vielleicht auch ich so dächten, wie diese Anderen? Sollten wir das mal üben?

Wir sind in unserem eigenen Denken gefangen und kommen gar nicht heraus.

Wir sind heute peinlich darauf bedacht, keine Fehler zu machen, vor allem keine, die wir selbst merken, denn sonst hätten wir ja gar nicht Recht. Und die Anderen machen ja so viele Fehler. Dass die das gar nicht merken? Spontane Fehler versuchen wir zu vermeiden durch den Gebrauch von Rechnern und Maschinen, durch Qualitätskontrolle und jede Menge Bürokratie. Wir entwickeln im Laufe des Lebens jede Menge psychologische Tricks, die uns davor verschonen, eigene Fehler wahrzunehmen oder wenn wir sie doch wahrnehmen, dann doch als harmlos oder als Bagatelle anzusehen. Die Fehler bei den Anderen sehen wir viel genauer, viel deutlicher und die wiegen auch viel schwerer, als unsere eigenen Fehler. Eigentlich machen wir selbst gar keine Fehler, oder?

Viel problematischer sind die systematischen Fehler, denn die macht die Maschine vielleicht auch? Die macht der Qualitätskontrolleur vielleicht auch und daher findet er sie gar nicht. Wer an alles sehr optimistisch geht, ist vielleicht glücklicher als Andere, aber er wird bei Entscheidungen und Urteilen den systematischen Fehler des Optimismus immer wieder machen. Umgekehrt ist das mit dem Pessimismus nicht anders, nur umgedreht. Wer glaubt, dass wir Menschen alles können und alles immer besser machen, vor Allem Jeder von sich selbst, der wird sehr einseitig entscheiden und bei Allem auch nur das Gute, das Besser und das Plus sehen. Wenn ein anderer Optimist kommt, dann wird er sehr wahrscheinlich den gleichen Fehler so oder ähnlich machen, nur in seiner Sicht und wird den Fehler gar nicht als Fehler wahrnehmen? Das damit verbundene Minus, die Nachteile, Risiken und Kosten kommen uns meist gar nicht in den Sinn. Auf die werden wir erst aufmerksam, wenn wir gegen die Wand fahren oder wenn wir die Rechnungen bekommen oder die Polizei kommt. Dann wundern wir uns und fühlen uns als ungerecht behandeltes Opfer.
Wenn also in der Wissenschaft Studien erst von erfahrenen Wissenschaftlern überprüft werden, bevor sie in die renommierte Zeitschrift kommen, dann versuchen die, die spontanen Fehler zu eliminieren, aber die systematischen, die philosophischen Fehler finden sie oft gar nicht, weil sie die ja selbst auch machen. Sie denken ja in vielen Dingen wie die Forscher. Wissenschaftler in dieser Position haben ja nun erst recht Recht. Deshalb führen sie ja auch die Peer-Review-Kontrolle aus.

Die junge Frau verliebt sich in einen Mann und es folgen 6 wundervolle Monate. Dann geht die Beziehung in die Brüche. Enttäuscht zieht sie sich zurück und versucht es nach einem Jahr wieder. Ähnlicher Verlauf. Nach dem dritten Versuch gibt sie ganz auf und sieht sich als Opfer aller Männer, die ihr nur schlechtes wollen. So unwahrscheinlich ist das leider auch gar nicht, denn wir Männer wollen ja vor allem das Gute für uns und kaum für die Frauen. Aber könnte das einfach nur die Auswirkung eines systematischen Fehlers in unseren eigenen Ansichten sein? Den Fehler haben wir noch gar nicht wahrgenommen und wir machen ihn immer wieder. Er ist nicht so einfach durch Regeln oder Bürokratie oder Anderes zu eliminieren. Dabei machen wir doch selbst gar keine Fehler. Wir haben ja Recht. Die Fehler machen doch die Anderen! Aber aus Ihrer Sicht bin ich ja ein Anderer, oder? Ich bin zugleich Ich und ein Anderer.

Was ich nicht weiss, das weiss ich nicht. Dann kann ich es auch nicht erfragen. Denn eine gezielte Frage setzt das Wissen oder zumindest Ahnen um mein Nichtwissen voraus. Wissenschaftliches Arbeiten setzt das Formulieren einer Hypothese voraus, die es dann zu bestätigen oder als falsch herauszufinden gilt. Woher weiss ich, das ich nicht mit meiner Hypothese dicht neben oder sogar weiter entfernt von der Realität formuliere?

Wir müssten wahrscheinlich erst einmal verstehen, einsehen und glauben, dass wir gar nicht wissen, was ist, was richtig ist, was Recht ist und damit natürlich, ob wir überhaupt Recht haben (können). Eigentlich wissen wir schon seit Sokrates bei den alten Griechen, dass wir nichts wissen und doch sind wir alle zutiefst von uns überzeugt, zu wissen. Seit über 2000 Jahren denken und handeln wir möglicherweise konsequent falsch und glauben, dass es richtig ist. Oder auch erst seit Beginn der Neuzeit oder erst seit irgendwann später? Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass wir richtig oder realitätsnah denken, aber wir wissen es nicht. Wir haben keinen Massstab, keinen Bauplan, sondern nur unsere Vorurteile. Wir sind uns nur völlig sicher, dass wir wissen und dass wir Recht haben, ohne zu wissen, ob es tatsächlich so ist. Kann man denn an den eigenen Vorurteilen die Richtigkeit seiner Vorurteile überprüfen?

Dabei stimmt es so wahrscheinlich auch wieder nicht. Wir sehen eine Seite, unsere Seite und unsere Sicht ist ja unsere Sicht. Aber Andere sehen es von anderen Seiten und entwickeln daher eine andere Sicht, ihre Sicht. Objektivität ist eine theoretische Grösse, die wir nicht erreichen, auf keine Weise, denn dann wüssten wir ja. Eine theoretische Grösse ist nicht Realität, sondern mehr oder weniger weit entfernt von der Realität. Objektivität hätten wir ja gerne und dann hätten wir ja endlich Recht. Vergessen Sie's. Der Graben zwischen der Realität und meiner Aufnahmefähigkeit im Hirn ist unüberbrückbar und daher auch nicht durch immer mehr Qualität oder immer mehr Messgenauigkeit oder irgendeine andere Form von „mehr“ oder „besser“ überbrückbar. Der Graben bleibt. Das ist offenbar eine biologische Naturregel. Aber ob die immer und überall gilt, kann ich nicht überprüfen und deshalb formuliere ich hier kein Naturgesetz, sondern nur eine biologische Naturregel.

Twitter, nun X und die vielen anderen sozialen Medien auf der ganzen Welt und im Grunde sogar alle Medien sind natürlich in aller Regel grossartige Vervielfältigungsmaschinen unserer Vorurteile. Nur ganz selten finden wir in den sozialen und nur wenig häufiger in den alten Medien Information, die nicht einfach eine Seite darstellt und damit völlig tendenziöse Information liefert. Die kann manchmal wichtig sein und helfen, ist aber nur ein kleiner Teil dessen, was wir brauchen, wenn unsere Urteile den Status von Vorurteilen verlassen sollen.

An den Brennpunkten unserer Welt, im israelisch-arabischen Konflikt als Beispiel, sehen wir es jetzt 2023 gerade wieder hochaktuell. Aber die anderen vielen Konfliktherde in dieser Welt zählen ebenso. Information mit vielen Sichtweisen, ob wir je alle finden, wissen wir ja nicht, und damit Gewinnen eines breiter abgestützten Urteiles, ist eine Kunst, kostet viel Arbeit und Zeit und ist damit eine Seltenheit unter uns Menschen, genaugenommen nie sicher erreichbar, denn wir wissen ja nie, ob wir alle nötigen Informationen für ein wohl abgestütztes Urteil zusammen haben. Mindestens 80 % der uns erreichenden Informationen sind heute teilweise richtig und teilweise falsch und sehr tendenziös, je nach Sichtweise. Natürlich ist immer unsere Sichtweise richtig. Wer zwischen falsch und richtig in den sozialen Medien entscheiden will und falsch löschen will, der kann ganz einfach handeln: Der Andersdenkende ist falsch und alles, was anders gedacht ist, gehört dann gelöscht. So erleben wir Meinungsvielfalt und -freiheit.

Ich habe Recht und wenn Du anders denkst, dann bist Du falsch, ist ein seit dem dritten Lebensjahr in uns fest verwurzeltes Vorurteil, das kaum zu entfernen ist. Ich arbeite jetzt bei mir seit mehr als zwanzig Jahren daran. Wie weit ich gekommen bin, können Sie wahrscheinlich viel besser beurteilen, als ich selbst.

Dieses Vorurteil von „Ich habe Recht“ zementiert noch eine ganze Menge Vorurteile anderer Art in uns.

Da wäre zu nennen, dass wir seit Beginn der Neuzeit zunehmend der festen Überzeugung sind, dass wir die Welt immer besser machten und dass das auch noch nach einer immer ansteigenden Kurve, im mathematischen Bild gedacht, funktioniert. Unsere eigene Begrenztheit bedingt aber sehr wahrscheinlich, dass die meisten Vorgänge und Entwicklungen auf dieser Erde und in unserer Welt nicht der immer ansteigenden Kurve, sondern einer verbeulten Gausskurve folgen. Dies überhaupt wahrzunehmen, kostet viel Energie, Zeit, Selbstkritik und Beobachtung unserer Umgebung. Seitdem versuche ich, diese Sichtweise in mein Leben und meine Ansicht vom Leben einzubauen, was mich viele Jahre meines Lebens gekostet hat, umzudenken, umzuformulieren, umzuplanen. Seitdem erlebe ich immer wieder, dass ich vermutlich falsche Ansichten durch andere ersetzen muss. Dass ist spannend, aber aufwändig. Wollten wir solche Veränderungen unserer Ansichten in Freiheit und Selbstbestimmung im grossen Stil ändern, dürften wir sicher Jahrtausende einplanen, bis so etwas den grössten Teil der Menschheit erfasst hat.

Für ein weiteres solches Vorurteil halte ich unsere Vorliebe für das Schubladendenken. „Du gehörst zu uns, zu unserer Gruppe, zu unserem Volk, zu unserer Berufsgruppe, Du denkst wie ich oder wie wir, …“ beherrscht unser Welt- und Menschenbild vollständig. Alle müssen gleich sein in dieser Schublade, gleich hohe Qualität liefern (und wir bestimmen natürlich auch selbst für die Anderen, was Qualität ist) und die Anderen gehören dann natürlich auch nicht dazu. In der Wissenschaft definieren wir die Dinge und wer eine andere Definition liefert, der kann eigentlich gar nicht Recht haben. Dann gibt es Richtungskämpfe und Auseinandersetzungen bis eine Gruppe die Hoheit gewonnen hat und bestimmt, was als Beweis angenommen wird und fortan gilt. Welche Gruppe Recht hat, bestimmt sich auch in der Wissenschaft oft nicht daran, wer Recht hat, denn das wissen wir ja gar nicht und werden wir wohl in den meisten Fällen auch gar nie wissen, sondern wer Recht hat, entscheidet sich daran, welche Gruppe mehr Einfluss hat, die höheren Positionen besetzt, lauter oder angeblich fortschrittlicher argumentiert, zum erlauchten Kreis der grauen Eminenzen gehört (auch wenn es heute junge hübsche Damen sind) etc. Meines Erachtens gilt sogar in der Wissenschaft wie der Biologie, der Medizin, der Soziologie, also zumindest in den Wissenschaften am Lebenden eher die verbeulte Gausskurve als die Schublade. Die unterschiedlichen Grenzbeschaffenheiten zwischen einer Schublade und einer Gausskurve und erst recht einer verbeulten Gausskurve würden viele Streitereien völlig überflüssig machen und würden die Realität wahrscheinlich oft viel näher beschreiben. Aber können Sie sich vorstellen, dass wir als Wissenschaftler unser Vorurteil „Ich oder wir haben Recht“ und unser Vorurteil des Schubladendenkens zugunsten eines Denkens in einer verbeulten Gausskurve einfach ändern würden? Dürfen wir nicht locker annehmen, dass das Jahrhunderte bis Jahrtausende in Anspruch nehmen würde?

Eine solche Änderung unserer Philosophie würde unser Zusammenleben in vermutlich fast allen Lebensbereichen dramatisch ändern.

Früher störten sich Viele, und vor allem die Frauen daran, dass Männer immer solche Rechthaber sind. Das kann ich vollkommen nachvollziehen. Rechthaber sind unangenehm. Das merken Sie auch an mir. Die Frauen waren nicht solche Rechthaber oder zumindest die meisten nicht. Recht haben war eine Negativeigenschaft. Damals war also die gute Hälfte der Menschen Rechthaber. Seit der Emanzipation der Frauen haben die Frauen nun auch alle Recht. Jede Frau, die heute etwas auf sich hält, muss Recht haben. Das kann man begrüssen und unsere Damen dazu beglückwünschen. Warum ist das Recht haben bei den Frauen jetzt plötzlich eine Positiveigenschaft? Aber nun sind Männer und Frauen Rechthaber, also mehr oder weniger alle, nahe 100 %. Glauben Sie, dass das für uns als Bewohner unseres Landes einen Vorteil hat, wenn alle Bewohner Rechthaber sind? Womöglich hat sich die Situation damit sogar für die Frauen verschlechtert? Wenn Recht haben wichtiger ist, als Kinder zu bekommen und mit ihnen zu leben, schafft sich die Menschheit, also auch die Frauen, langsam selber ab. Schauen wir uns die Länder der weissen Rasse heute an. Herr Tilo Sarazin hat nicht nur für Deutschland Recht, sondern weitgehend für alle Länder der weissen Rasse.

Ich könnte Ihnen jetzt noch eine Reihe anderer solcher Vorurteile aufzählen und beschreiben. Ihr selbstkritisches Nachdenken über sich selbst und Ihre Denk-, Lebens- und Handelnsweise wird Sie selbst dorthin führen.

Wäre es womöglich sinnvoller gewesen, wenn lieber wir Männer weniger rechthaberisch und rücksichtsvoller, natürlich vor Allem rücksichtsvoller den Frauen gegenüber, geworden wären? Dann wäre ein gedeihliches Zusammenleben leichter? Zwei Rechthaber in einer Ehe, nur Rechthaber in einer Familie?

Für die Mathematiker, Qualitätsmanager und Wissenschaftler unter uns noch eine Anregung dazu: Unsere Vorurteile werden zu unseren systematischen Fehlern im Leben, im Forschen, im Lehren, im Organisieren etc. Wir setzen seit Beginn der Neuzeit viel Energie in die Elimination von Fehlern. Das hat dazu geführt, dass wir Maschinen in der Produktion oft den Vorrang geben, weil sie immer gleiche Vorgänge verrichten und damit immer gleiche Endprodukte schaffen, was wir für Qualität halten und was unter gewissen Gesichtspunkten auch Qualität sein kann. Inzwischen haben findige Wissenschaftler und Techniker herausgefunden, dass das eine Begrenzung schafft, die unsere Entwicklung zunehmend behindert. Es wurden zunehmend Maschinen entwickelt, die wie CNC-Maschinen durch unterschiedliche Programmierung, Anwendung vielfältiger Mess- und Kontrollsysteme und variabler Arbeitsmethoden wieder neue Vielfalt in der Produktion ermöglichen. Sie ermöglichen dadurch den zunehmenden Ersatz des Menschen als Teil der Produktion oder Wertschöpfungskette. KI ist der neuste Schrei und wer etwas auf sich hält, muss natürlich dem neusten Schrei folgen. Johann Wolfgang von Goethe hat das ja schon vorhergesagt. Die Frage an dieser Stelle ist, ob unsere Vorurteile an dieser Stelle uns als Menschheit wirklich in eine Zukunft, noch dazu eine gewünschte himmlische oder gute Zukunft führen oder ob wir nicht eher annehmen müssen, dass wir uns selbst ad absurdum führen? Welche Tierart auf diesem Globus hat es wohl als ihr höchstes Ziel angesehen, sich selbst zu ersetzen und damit dem Risiko des Aussterbens auszusetzen, nur weil ein Teil der Menschen darin eine Chance sieht? Das schaffen wahrscheinlich nur wir Menschen?

Es spricht also Einiges dafür, dass wir mit unserem Verstand nicht weit über das Stadium eines oder einer Dreijährigen hinauskommen. In diesem Stadium leben wir, lehren wir, forschen wir, treiben wir Politik, führen wir Krieg etc. Die Evolution und/oder das allgemeine Sein und/oder Gott haben uns nur mit mehr Hirnzellen ausgestattet, als wir sinnvoll bedienen und nutzen können, sodass wir heute eine Menge Ansichten speichern, die wir für „Wissen“ halten und auch so verwenden und auch eine Hülle und Fülle von Unsinn speichern. Betrachten wir das im Grossen und als Gesamtheit in der Evolution oder Schöpfung, schwinden der Wert und Sinn dieser Hirnzellen und dieses „Wissens“ plötzlich dramatisch. Wahrscheinlich sind wir die einzigen Lebewesen, die uns selbst für so gut und kooperativ halten. Alle anderen Lebewesen wären womöglich froh, wenn wir Menschen endlich von diesem Globus verschwinden würden?

Interessant ist der Umgang mit uns Menschen untereinander. Wer sich beherrschen kann und mehr Verständnis für Andere hat, der wird diplomatisch. Das ist eine sehr wertvolle Lebensweise in der Politik im Grossen, aber auch in der Familie im Kleinen. Worauf kommt es an? Erstens kommt es darauf an, dass Derjenige, um den es geht und von dem wir etwas wollen, sein Gesicht behält. Das bedeutet, dass wir ihm nicht zu verstehen geben dürfen, dass seine Ansichten wohl falsch oder zumindest nicht richtig sein könnten, wenn wir ihm unsere Ansichten unter die Nase reiben oder von ihm etwas wünschen oder gar wollen. Sie oder er muss den Eindruck behalten, selbst Recht zu haben und über sich selbst bestimmen zu können. Sonst verliert sie oder er ihr/sein Gesicht vor sich selbst. Das ist der Super-Gau für uns Menschen, natürlich wieder immer nur für die Anderen. Aber warum ist es dann so schlimm für Sie, wenn Sie mal nicht Recht bekommen?

Zweitens müssen wir als Diplomaten sie oder ihn täuschen, dass sie/er etwas hergeben soll, ohne dass sie oder er dafür etwas hergeben muss. Weil uns das als Diplomaten so gut gelingt, bezahlen wir dann ja auch mit Geld (der Staat über Staatsschulden), selbst wenn wir gar keines mehr haben.

Sie merken, Diplomatie geht eigentlich gar nicht. Ich kann kaum Jemanden korrigieren, so dass er seine Ansicht ändert, ohne dass er das merkt und ich kann auch kaum Jemanden bitten, etwas herauszugeben, ohne dass er das Fehlen bemerkt. Vielleicht könnte ich ihm unbemerkt etwas stehlen? Aber das wollten wir in der Diplomatie doch nun gerade nicht, denn dann ist das ganze Vertrauen pfutsch, wenn das Einer merkt.

Wir Menschen sind ja findig, also erfinderisch. Deshalb haben unsere Politiker uns Bürgern und Wählern gegenüber, um unsere vielen Wünsche zu erfüllen, ja das gedachte Geld erfunden. Sie nehmen uns etwas in Form von Gesetzen weg und geben uns dafür gedachtes Geld, Geld, dass im Falle von Darlehen von der Nationalbank eigentlich Geld aus unserer linken Hosentasche ist, dass sie uns in die rechten Hosentasche geben (Wir sind ja Demokraten. Wir sind Miteigentümer unseres Staates). Wenn wir nicht für das Geld aufkommen müssen, dann unsere Kinder. Eine schöne Zukunft für unsere Kinder, oder. Wenn es rein gedachtes Geld ist, dann wird es uns Inflation bescheren oder auf andere Weise wertlos werden.

Jede und Jeder von uns hat Recht und in seinen Augen natürlich heute auch jede Menge Rechte. Wir sind so von unserem Recht haben überzeugt, dass wir alle missionieren müssen für unsere Ansicht, die ja richtig ist. Die sozialen Medien erleichtern uns das heute in unbegrenztem Masse und sind voll davon. Wirklich? Wenn wir aber alle Recht haben, dann will sich doch gar Keiner bekehren, also die Ansicht des Missionars, Influencers, Politikers oder wessen auch immer, übernehmen. Dann aber brauchen wir doch gar nicht mehr zu missionieren, zu lehren, zu informieren etc. Es ist doch sowieso alles nutzlos. Warum tun wir es dann? Was treibt uns? Interessanterweise haben aber Influencer viele Follower.

Einem Anderen Recht geben wollen wir auch nicht, denn wir haben ja Recht. Wie kann Die oder Der nur auf die Idee kommen, mit ihrer oder seiner anderen Denkweise Recht oder Rechte haben zu können und dann von mir deren Gewähren zu wollen?

31 October 2023
wf