Schlaf

Schlaf, Mechanismus und/oder Mysterium (11/2023)

Schlaf ist eine passive Aktivität.

Wie bitte? Gibt es so etwas? Kann ich passiv aktiv sein? Überlegen wir uns, wie das zustande kommt.

„Kind, schlaf endlich!“ Sie werden sich sicherlich erinnern? Ihr Kind gehorchte Ihnen sofort und schlief ein, oder? Schlafen Sie mal ein, wenn Sie einigermassen ausgeschlafen sind, aber wissen, dass Sie einen langen Arbeitstag oder eine lange Reise vor sich haben, wo Sie viel länger als gewohnt, keine Gelegenheit zum Schlafen bekommen werden. Schon mal im Voraus schlafen, Vorrat schlafen. Geht das?

Wir haben eine Vorstellung von Schlaf, von „normalem Schlaf“, Männer wie Frauen. Die meisten Männer legen sich ins Bett und schlafen und irgendwann sind wir wieder wach. Wir haben geschlafen. Vielleicht sind wir zwischendurch mal zur Toilette gegangen.

Frauen schlafen mit Unterbrechungen, mit wechselnden Schlafphasen, mit mehr oder weniger langen Pausen. Die meisten Männer können Sie nachts nur schwer wecken. Gerüche oder Licht merken wir gar nicht. Frauen sind da viel empfindsamer. Sie riechen auch im Schlaf, hören viel mehr im Schlaf, sind auch im Schlaf seltener so völlig weg, wie wir Männer.

Für die meisten Frauen ist schlafen so richtig, wie die Männer schlafen. Aber woher nehmen die Frauen diese Ansicht? Könnte es sein, dass Frauen ganz anders schlafen? Könnte es sein, dass Schlaf auch für Frauen ganz andere Funktionen hat? Könnte für Frauen ganz anderer Schlaf „normal“ sein?

Wir müssen uns ja immer wieder klar machen, dass sich unser Körper und seine Funktionen (wenn wir die Evolutionstheorie so glauben, wie wir sie heute glauben und wir glauben sie jetzt mal) vor tausenden von Jahren in einer völlig anderen Umgebung entwickelt haben als wir sie heute haben. Unser Leben war für 90 % der Menschen nur etwa halb so lang. Die Phase des Lebens, in der die meisten körperlichen Funktionsstörungen auftreten und Krankheiten und Gebrechen zu Beschwerden führen, haben die Menschen damals gar nicht erlebt. Sie hatten viele unserer heutigen Hilfsmittel nicht. Sie mussten in der Regel von morgens früh bis abends spät meist körperlich schwer arbeiten. Natürlich waren die dann so müde, dass sie schnell fest geschlafen haben. Vielleicht durften im evolutionären Umfeld die Frauen gar nicht so tief schlafen, denn Jemand musste ja mitbekommen, wenn mit den Kindern etwas nicht stimmte oder irgendetwas Anderes drum herum?

Wir können heute gar nicht sicher sagen, wie und warum sich Schlaf so entwickelt hat, wie er sich entwickelt hat. Wir haben weder einen Bauplan der Evolution, wie sie sich den menschlichen Schlaf als normal gedacht hat (falls sie überhaupt gedacht hat) noch einen Bauplan von irgendeinem Gott, der uns mitgeteilt hätte, wie er sich den Schlaf im Schöpfungsakt vorgestellt hat.

Was ist normaler Schlaf? Woher wollen wir das wissen? Und tatsächlich: Wir können nicht einfach befehlen: Jetzt schlafe ich! Körper, schlafe jetzt! Schlaf ist zu einem grossen Teil eine passive Angelegenheit und doch schlafen wir, also ist es unsere Aktivität?

Schlaf ist eine Funktion eines lebenden Körpers. Wir sagen zwar, dass ein Mensch im Tod eingeschlafen ist, aber so ganz angemessen ist diese Ausdrucksweise wohl doch eher nicht? Tote schlafen nicht, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie Lebende. Was macht den Unterschied aus zwischen einem Lebenden und einem Toten oder zwischen einem Lebenden und blosser Materie wie einer Maschine? Auch Maschinen schlafen nicht.

Da müssten wir uns also zunächst Gedanken machen, was denn Lebende von lebloser Materie unterscheidet? Reicht es, wenn unsere Astronomen auf allen möglichen Himmelskörpern nach organischen Molekülen suchen, zu sagen, wenn sie welche gefunden haben, dass dort Leben ist? Doch wohl eher nicht? Nach Leben zu suchen, wenn man gar nicht weiss, was Leben eigentlich ist, ist schwierig. Dann als Wissenschaftler zu hoffen, irgendwann sagen zu können, was normaler Schlaf, ja was Schlaf überhaupt ist? Verwegen, oder? Die Chance auf Erfüllung dieses verständlichen Wunsches von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ist doch eher gering, oder?

Über „Leben“ im Unterschied zu blosser „Materie“ habe ich an anderen Stellen nachgedacht und geschrieben.

Könnte es sein, dass Schlaf eine Verbindung zu anderen Dimensionen hat, dass Schlaf von dort geschenkt wird? Wir kennen diese Dimensionen nicht und werden wohl auch kaum Zugang zu diesen Dimensionen haben oder bekommen. Jemand (ein Engel oder eine Engelin?) wacht über uns? Könnte es auch das Gegenteil geben? Zumindest Gedanken machen sollten wir uns über solche Möglichkeiten doch und nicht einfach als Vorurteil bestimmen: So etwas gibt es nicht! Basta! Das wäre doch ebenfalls verwegen, ja geradezu unwissenschaftlich?

Ist Schlaf nur ein Mechanismus, den unsere Hirnforscher erforschen können und dann haben sie den Schlaf verstanden und können uns sagen, was Schlaf ist? Oder handelt es sich bei Schlaf auch oder nur um ein Mysterium? Eine Kombination von Mechanismus des Körpers und Mysterium, mit einem Einfluss von unbekannter Stelle? Wir werden das auch noch an anderen Stellen bei dem Versuch, uns Menschen zu verstehen, feststellen.

Für uns ist „normaler Schlaf“ einfach Schlaf, so wie wir ihn uns wünschen, wie wir ihn uns vorstellen. Aber wie kommen wir darauf, uns Schlaf vorzustellen, so wie wir ihn uns vorstellen? Wieder, warum halten die meisten Frauen den Schlaf für Menschen für normal, den sie bei uns Männern erleben? Könnte es vielleicht sogar sein, dass der weibliche Schlaf normal ist und nicht, wie wir Männer schlafen? Oder ist normaler Schlaf einfach unterschiedlich bei Frauen und bei Männern?

Können wir den Schlaf beeinflussen? Ja, das geht. Wenn ich in ruhiger und dunkler Umgebung liege, schlafe ich leichter ein und durch als in einem Zimmer mit einer Laterne vor dem Fenster und einer viel befahrenen vierspurigen Strasse direkt vor dem Haus. Aufregende Erlebnisse oder Filme etc. vor dem Zubettgehen behindern mein Einschlafen. Aber Ruhe und Dunkelheit garantieren mir kein schnelles Einschlafen. Bin ich todmüde, schlafe ich schneller ein, aber es gibt manche, die dann so aufgedreht sind, dass sie erst recht nicht einschlafen können.

Kann man Schlaf dann einfach mit Schlaftabletten erzeugen oder sogar erzwingen? Ist das dann Schlaf, normaler Schlaf, erholsamer Schlaf oder vielleicht eher eine leichte, unvollständige Narkose? Wenn wir mit Melatonin Schlaf erzeugen wollten, dann wäre das in meinen Augen in gewissem Sinne sinnvoll, weil Melatonin beim Schlafen eine Rolle spielt. Aber die Medikamente, die wir sonst zum Einleiten einer Narkose benutzen und in entsprechend geringerer Dosis als „Schlafmittel“ bekommen? Ist das sinnvoll? Zumindest Zweifel sind hier doch wahrscheinlich angebracht?

Aber ich habe genug Frauen erlebt, die, weil sie nicht so schlafen konnten, wie ihr Mann oder die Männer, einfach nach einem Schlafmittel fragten und das sofort und ohne irgendeine Überlegung oder einen Zweifel haben wollten. Keine Diskussion, Doktor, ich will das jetzt. Ich will oder muss schlafen (wie mein Mann).

Dann müssen wir bei den meisten dieser Medikamente auch noch an das Abhängigkeitspotenzial denken. Über Jahrzehnte wurden diese Medikamente in erstaunlichen Mengen und ohne Nachzudenken von Ärzten (und Ärztinnen) an Patientinnen abgegeben, sodass wir viele abhängige Frauen haben. Entzug ist schwer. Wir Ärzte waren und sind es auch heute noch ziemlich dumm. Die Steigerung ist die Opiatkrise in den USA mit tausenden von Toten jährlich als Folge von Abhängigkeit.

Ich bin mir heute nicht sicher, ob es ausser mal für eine Nacht, Gründe geben kann, ein „Schlafmittel“ einzunehmen. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis ist einfach zu ungünstig. Aber da wir nicht genug unsere eigenen Positionen hinterfragen, nicht genug nachdenken, ist uns Ärzten das bisher gar nicht klar geworden. Entschuldigen Sie bitte meine Frechheit: Frauen denken da sowieso nicht drüber nach, zumindest als Patientinnen nicht.

Es gibt auch noch einige Andere Einflüsse auf unseren Schlaf. Die Erfindung und Nutzung des elektrischen Stromes hat zu einer dramatischen Abkürzung der Schlafdauer pro Nacht geführt. Von Alexander von Humboldt ist überliefert, dass er ausgesprochen ungehalten abends und morgens darüber war, dass er wegen der Dunkelheit ohne elektrischen Strom (den gab es damals noch nicht für uns nutzbar) seinen wissenschaftlichen Arbeiten nicht nachgehen konnte. Er war gezwungen, auszuruhen, vielleicht sogar zu schlafen.

Unsere heutigen Arbeitszeiten sind ein Korsett, das wir Menschen uns selbst angelegt haben, das die Schlafenszeit meist verkürzt.

Heute haben wir eine Menge Ablenkungen, Aktivitäten, Pflichten etc., die alle an der Zeit fressen, die wir eigentlich für unseren Schlaf hätten, sodass wir kaum noch genug Schlaf bekommen können. Die Menge digitaler Kommunikation frisst an der Zeit für unseren Schlaf. Die Menge auf uns einstürmender Reize in Form von Geräuschen, Informationen und Signalen führt zu einer Überreizung unseres Nervensystems. Ist unsere Müdigkeit unter diesen Umständen ein Wunder?

Ist die weitverbreitete Müdigkeit unter Frauen nicht eher ein Zeichen von Gesundheit und einfach falscher Lebensweise mit unserem vorhandenen Körper, der auf die jetzige Situation biologisch gar nicht eingestellt ist? Wir leben einfach falsch?

Selbst bei den Wissenschaftlern und uns Ärzten müssen wir doch fragen, können wir denn überhaupt sagen können, was „normaler Schlaf“ ist? Je nach unserer Einstellung, wie wir „leben“ definieren, welche Form von „leben“ wir für richtig halten und ob wir eine Einstellung meinen, wie Leben ursprünglich war oder ob wir unsere heutige Lebensweise für normal halten, wird die Antwort unterschiedlich sein. Es gibt gar keine allgemeingültige Antwort, die uns die Wissenschaftler oder wir Mediziner geben könnten. Wir halten je nach Philosophie unterschiedliches für „normal“. Wir bestimmen einfach selbst, was wir für „normal“ halten. Das wird dann in Guidelines geschrieben und in immer wiederkehrenden Fortbildungen als Qualitätssicherung an die „unteren“ und jüngeren Mediziner weitergegeben, damit die bloss nicht anders denken und handeln bzw. behandeln. Davon abhängig wären dann auch die Antworten, wie wir auf unser Gefühl von Müdigkeit reagieren sollten, völlig unterschiedlich.

Zuletzt wäre noch zu fragen, ob denn Müdigkeit in gewissem Masse nicht sogar für normales Leben „normal“ ist? Wir haben nur je nach unseren Vorstellungen Definitionen von Müdigkeit und „normal“ und „unnormal“ getroffen, die völlig aus der Luft gegriffen sind, auch aus der wissenschaftlichen Luft.

Aber, wir haben nun viele schlafmittelabhängige Frauen mit den entsprechenden Folgen.

Interessanterweise bekomme ich viele Patientinnen und auch einige Patienten mit solchen Problemen dann zur Abklärung, ob sie nicht eine Schlafapnoe haben. Das ist nun allerdings ein völlig anderes und eher gegensätzliches Problem. Das zeigt nur, wie wir Mediziner in der Forschung und Beurteilung von Problemen mit dem Schlaf trotz Guidelines und Fortbildungen im Trüben schwimmen. Wir haben gar keinen Boden unter den Füssen. Wahrscheinlich können wir auch gar keinen Boden unter den Füssen bekommen? Wir müssten erst einmal selbstkritisch anfangen, nachzudenken?

12 November 2023
wf