Warum gibt es ihn? Was ist zu tun?
Werden wir Menschen nun immer gesünder oder immer kränker oder weder noch?
Das hängt von unserer Weltanschauung ab, von unseren Vorurteilen, mit denen wir durch das Leben gehen. Hänge ich der Ansicht (oder sogar dem „Wissen“ an), dass ich alles gut mache und ich mit meinem Leben und Arbeiten die Welt besser mache, dann werden wir natürlich irgendwann das Ziel erreichen, den Himmel auf Erden gebaut zu haben, und den natürlich ohne Krankheit, ganz nach unserem Wunsch und ganz im von uns gewünschten Wohlstand. (so die Vorausschau z.B. von Herrn Yuval Noah Harari, NZZ vom 15.1.2022)
Gehe ich davon aus, dass immer alles schlechter wird, dass wir Ressourcen nur immer weiter verbrauchen, dass das Böse immer mehr zunimmt, alle Menschen immer schlechter und böser werden (natürlich ausser uns selbst), dann werden wir sehr wahrscheinlich auch immer kränker werden, wahrscheinlich auch wieder ausser uns selbst. Diese Konsequenz ist nicht zwingend, aber sie liegt nahe. Wer nicht weiter nachdenkt, kann leicht in ihr Fahrwasser geraten.
Die Wissenschaft betreiben wir in der Erwartung und Wissenschaftler gehen mehrheitlich auch davon aus, dass wir bzw. sie mit ihrer Arbeit Krankheit reduzieren und Gesundheit stärken und damit einem ominösen Ziel immer näher kommen: Gesundheit (und interessantes, bequemes Leben) statt Krankheit und Leid.
Betten wir uns Menschen in die Entwicklung einer Evolution ein, dann müssen wir uns zunächst eine evolutionäre Entwicklung irgendwie denken. Wissenschaftler haben viel Phantasie darauf verwendet, uns eine evolutionäre Entwicklung zu beschreiben. So stellen sie sich die evolutionäre Entwicklung vor (auch wenn gar keiner von ihnen dabei war und sie uns daher nur ihre Vorstellungen, nämlich das, was sie aus der Kenntnis von Indizien ableiten und glauben, erzählen können). „Wissen“? Nur eine Illusion.
Wahrscheinlich wird sich unser Körper in einer Zeit entwickelt haben, als wir noch in einem ökologischen Gleichgewicht von Fressen und gefressen Werden im Kreise der anderen Lebewesen dieser Erde lebten. Erst die Entwicklung unserer Hirnzellen machte Phantasie, Selbstbewusstsein, Entwicklung einer Beurteilung, Vorstellung von Zukunft und Zielen möglich und wir haben unsere Umwelt seitdem mehr oder weniger zielgerichtet verändert, erobert und gebraucht bzw. verbraucht oder sogar missbraucht.
Diese Differenzierung muss nicht zwangsläufig mittels Mutation und Selektion zu einer Verbesserung führen, wie sie uns manche Vertreter der Evolutionslehre glauben machen wollen. Es könnte auch ein Über-das-Ziel-Hinausschiessen geben, so dass z.B. Zivilisationskrankheiten eigentlich als Unzivilisationskrankheiten angesehen werden müssten. Dazu könnten wir Krankheiten zählen, die entstehen oder häufiger werden, weil wir älter werden, wie Arthrose, Verschleiss, Degeneration, Krebs, Gefässverkalkungen mit Herzinfarkt oder Schlaganfall, Demenz und weitere. Andere Krankheiten nehmen zu, weil wir im Wohlstand immer fetter werden, wie Übergewicht, Diabetes mellitus Typ II. Wieder andere nehmen zu, weil wir uns durch unsere technischen Möglichkeiten das Leben nicht nur immer bequemer und leichter machen, sondern auch komplizierter, schneller, kontakt- und spannungsreicher, so dass wir uns gegenseitig überfordern mit ADHS, Burn out, bestimmten Arten von Unfällen etc. und vielem mehr.
Je selbstbewusster und von unserem Recht haben und von unserem Rechte haben überzeugter wir werden, desto mehr werden es natürlich auch die Anderen. Das macht das miteinander Leben nicht nur leichter und angenehmer, wie uns manche Psychologen lehren. Vermutlich stärkt es eher die Spannungen in den Familien und Ehen, zwischen den Parteien, den verschiedenen Gruppierungen im Staat.
Als Arzt, die Menschen und die Medizin betrachtend, versuche ich eine Summation oder Subtraktion dieser Faktoren und Entwicklungen. Da hat sich in den letzten 100 Jahren die Zahl und Schwere der Erkrankungen deutlich verschoben. In der Summe aber werden wir doch wohl eher annehmen müssen, dass es mit dem menschlichen Gesundheitszustand bergab geht? Wahrscheinlich werden wir Menschen insgesamt doch eher kränker als gesünder? Natürlich hat sich die Lebenserwartung in den letzten 200 Jahren fast verdoppelt, weil viele Infektionskrankheiten nicht mehr zum Tode führten und geheilt werden konnten. Früher wurden viele Menschen relativ jung durch Infektionskrankheiten relativ plötzlich aus dem Leben gerissen und erlebten damit keine oder eine nur sehr kurze Abwärtsspirale nach dem Höhepunkt der Schaffenskraft. Heute erleben wir eine Jahrzehnte dauernde Phase des Schwächer- und Kränkerwerdens bis am Ende ein „natürlicher“ Tod eintritt. Was machen wir da falsch? Warum bin ich dann noch Arzt? Der Bedarf an Pflegeleistungen und Pflegekräften wird also in den nächsten Jahrzehnten vermutlich eher zu- als abnehmen. Und dann wollen wir noch immer das und besonders unser Leben verlängern?
Wir werden immer anspruchsvoller, stellen also immer mehr Ansprüche an die Anderen, an das Leben, an unsere Umwelt, an Versicherungen und den Staat. Da in der Gesamtheit eines Volkes wir aber auch zu den Anderen gehören (in Form der Anderen, in Form der Versicherungen und des Staates etc.), stellen wir immer höhere Ansprüche an uns selbst. Das ist uns nicht bewusst oder verdrängen wir bewusst und muss regelmässig durch unsere Kinder ausgeglichen werden, bei denen wir uns Darlehen in Form von Staatsschulden holen, ohne dass die Kinder sich wirksam widersetzen könnten.
Wir wollen alles, nur nicht menschlich sein, nicht mit Kindern leben (es sei denn, sie sind niedlich, sie sind artig, machen nicht zu viel Arbeit, scheissen nicht in die Windeln, kosten nur wenig Geld und so weiter und so fort). Freude machen dürfen sie uns. Ansprüche stellen, sich uns widersetzen, dürfen sie nicht, aber wir haben das bei unseren Eltern mit Freude und Ausdauer gemacht. Menschen pflegen, zuhören, uns ihren Wünschen anpassen statt umgekehrt? Das können und sollen doch die Anderen machen. Doch die sind wie wir. Die und wir wollen Berufe mit schönen Bildern, schönen Umgebungen, ohne Spannungen, aber möglichst interessant und spannend, mit Technik, Digitalisierung, Kommunikation, Anderen Rat geben (denn Jeder von uns selbst weiss ja, was gut und richtig ist und berät daher Andere gar zu gern) etc. Die Berufe müssen oben auf der Karriereleiter stehen und viel Geld einbringen. Alles ist interessanter und besser als die Arbeit am und mit uns Menschen oder gar das Leben mit uns Menschen.
Selbst in der Pflege selbst zählt immer weniger die Pflege, sondern selbst in der Pflege muss man Karriere machen können, muss man immer mehr Geld verdienen können und damit ja keine Fehler oder Missetaten geschehen, muss alles dokumentiert und kontrolliert werden. Die Qualität der Pflege soll immer besser werden, statt dessen werden Dokumentation und Kontrolle und damit Bürokratie immer mehr und immer besser. Glücklicherweise gibt es noch immer Frauen (und ein paar Männer), die zum Dienen bereit sind, aber deren Zahl nimmt ab, denn wir wollen gar nicht dienen, sondern Geld verdienen, möglichst viel. Der moderne und fortschrittliche Mensch dient nicht, sondern macht Karriere und verdient Geld mit einem besonders schönen Job.
Die Anderen sollen diese Arbeit am und mit den Menschen machen. Viel kosten darf es aber nicht, aber wenn sie so viel Leistung bringen, so hart arbeiten müssen, wenn es so wenig Personal gibt, weil diese Jobs Keiner machen will, dann sollen sie doch bitte viel besser bezahlt werden. Nur auf unsere Krankenkassenprämien und unsere Kosten darf sich das nicht auswirken. Dann sollen doch bitte wieder unsere Kinder über die Staatsschulden ... Ich fürchte, hier schiessen selbst unsere Feministinnen und Feministen ein Eigentor. Karriere und Geld sind kein Ersatz für reales Leben, für persönliche Pflege, oder doch?
Ich fürchte, wir erleben eine Entwicklung, die wir nicht umdrehen werden, weil wir sie selbst gar nicht umdrehen wollen. Wir wollen jede erdenkliche Hilfe oder Bequemlichkeit oder Gesundungsmassnahme, nur Nebenwirkungen, Risiken oder Kosten darf sie nicht haben und Andere sollen die Leistungen erbringen. Das Geld brauchen wir schliesslich für Anderes, Wichtigeres, Besseres, für Ferien, Urlaub, grosses Auto und/oder grosses und keinen Wunsch unerfüllt lassendes Haus, den kleinen Rest zum Sparen und Spenden. Wir müssten auf Dokumentation, Kontrolle und Ansprüche auf Qualität von Anderen verzichten, müssten nur eben selbst unaufgefordert Qualität zum kleinen Preis erbringen. Wir müssten Fehler zulassen, ohne sie später zu beweisen und Schäden einklagbar zu machen. Das wäre Ausdruck von Toleranz.
Diese Diskrepanz zwischen Ist und Wunsch, zwischen Realität und Traum oder Theorie macht uns Angst, Stress, Unzufriedenheit und zunehmende psychische Erkrankungen. Ach, schon wieder mehr Krankheit und Gesundheitskosten?!
Geld würde im Pflegenotstand nur helfen, wenn wir selbst bereit sind, das Geld und die Leistungen dafür auch aufzubringen und damit auf Anderes zu verzichten.
All die genannten Entwicklungen kann eine Regierung gleich welcher Denkrichtung oder Form fast nicht beeinflussen, weder positiv im Sinne einer Lösung, noch negativ im Sinne einer Verschärfung. Wir selbst als Volk, als Bürger, als Wähler, sind nicht nur Volk als Inhaber von Rechten, sondern wir sind auch Volk als solche, die diese Rechte gewähren müssen. Wir, das Volk, müssen selbst für die Rechte und Freiheiten, die wir haben wollen, auch aufkommen und bezahlen. In den westlichen Demokratien ist diese Binsenweisheit in den letzten 250 Jahren vollständig vergessen gegangen und in den aufstrebenden Ländern und Völkern unserer Zeit glaubt man, im reichen Norden und Westen sei diese Binsenweisheit tatsächlich ausser Kraft gesetzt worden und man selbst könne es genauso machen. Wir glauben, durch Entwicklungshilfe gleich welcher Art, könnten wir den anderen Völkern helfen, diese Binsenweisheit auszuhebeln. Gewinn auf der einen Seite ist Verlust auf der anderen Seite. „Gewonnen“ ist bis auf seltene Ausnahmen nur eine Illusion.
Aktuelles Beispiel im Januar 2023: Die Bundesrätin, Frau Simonetta Sommaruga trat zurück, wie ich in der Zeitung las, um ihren kranken Mann zu pflegen oder ihm beizustehen, weil er gesundheitlich angeschlagen ist. Meine Hochachtung, Frau Bundesrätin a.D. Weiter las ich in der Zeitung, dass Kolleginnen und Kollegen ihre Achtung gegenüber Frau Sommaruga zum Ausdruck brachten, zu diesem Schritt. Offenbar gingen die Kolleginnen und Kollegen davon aus, dass es das Normale gewesen wäre, im Bundesrat zu bleiben und dass der Rücktritt das Aussergewöhnliche ist. Wenn wir genug Pflegepersonal haben wollen, müssen wir umdenken. Die Pflege, der Umgang, das Leben mit den Menschen, krank oder gesund, ist das Normale. Unsere Hatz nach Karriere, nach oberen Positionen, nach Regieren und Einfluss, ist das Unnormale. Sonst müssen wir uns nicht wundern über Mangel an Pflegepersonal. Ich bitte um Entschuldigung, sehr verehrte Politiker. Frau Sommaruga hat uns vorgemacht, wie es menschlich ist. Das Andere ist allerdings auch gar zu menschlich.