Natürlichkeit und Innovation

Ein sehr landläufiges Verständnis von Natur und Natürlichkeit meint damit in etwa „Unsere Umwelt, so weit sie nicht von Menschen verändert wurde.“ Je nach Bedarf wandeln wir das dann frei nach Selbstverständnis etwas ab. Dem gegenüber steht dann alles, was künstlich ist, also was von uns Menschen gemacht, verändert und entwickelt wurde. Auch das wandeln wir je nach Bedarf dann mehr oder weniger ab.

Innovation fällt also recht eindeutig in den Bereich des Künstlichen, denn das Neue gab es bisher nicht. Wir Menschen haben es erdacht, entwickelt, produziert und nutzen es. Leider müssen wir es später auch entsorgen.

Die Natur war vor uns bereits da und die Evolution hat uns in die Natur entwickelt. Vielleicht war es auch eine schöpferische Person? Aber was wissen wir? Wir fanden uns in der Natur wieder, mit zunehmendem „Zivilisationsgrad“, jede Folgegeneration mehr, jedoch in einer künstlichen Welt.

Natur ist somit mehr oder weniger Vergangenheit und je mehr wir Menschen innovativ tätig sind, desto mehr verändern wir die Natur künstlich und es ist abzusehen, dass wir irgendwann die Natur komplett „verkünstelt“ haben werden, innovativ verändert haben, uns nach unseren Wünschen angepasst haben. Das nennen wir ja „die Welt verbessern“, wenn wir die Welt unseren Wünschen anpassen. Wir sind innovativ tätig und verbessern damit die Welt.

Mindestens seit der Zeit der Romantik ist uns bekannt, dass wir uns nach Natürlichkeit sehnen. Alexander von Humboldt hat vor 200 Jahren starken Einfluss auf den Begriff der Natur gehabt und die Menschen um ihn herum wie auch er selbst entwickelten einen intensiven Eindruck von „Natur“ und entwickelten eine regelrechte sehnsuchtsvolle Abhängigkeit von der Natur.

Dass wir Menschen dann aus Sicht von Alexander von Humboldt in den kommenden 200 Jahren, aus unserer Sicht in den zurückliegenden 200 Jahren einen solchen Aktionismus an den Tag legen würden mit jeder nur möglichen Innovation die Natur zu verändern und zu verkünsteln, dass als den ultimativen Fortschritt preisen würden, aber doch eine intensive Sehnsucht nach Natürlichkeit und nach möglichst reiner Natur pflegen würden, ist ein Geheimnis menschlichen Seins.

Dieser Widerspruch wirkt sich etwa so aus, als wenn ich Sie bitte, eine Kerze anzuzünden und ich puste sie, bevor sie richtig brennt, bereits wieder aus. Das wiederholen wir Beide Tag aus, Tag ein immer wieder und mit wachsender Begeisterung. Eine Aussenstehende würde sich fragen „Was ist denn in die gefahren? Sind die verrückt? Da stimmt doch etwas nicht, oder?“ Wir sehnen uns nach Natur und Natürlichkeit und gleichzeitig zerstören wir die Natur durch Innovation um Innovation mit höchstmöglichem Tempo. Jede Innovation ist Ausdruck menschlicher Veränderung (meist Zerstörung) von Natur.


Können Sie mir erklären, warum wir mit angeblich klarem Kopf, mit bester universitärer Bildung, in demokratischen Verhältnissen (also, wo wir bestmöglichen Einfluss auf die Politik haben), in den besten moralischen Verhältnissen (denn wir halten schliesslich die Moral ein oder Sie etwa nicht?) Hü sagen und Hott nicht nur meinen, sondern aus innigster Überzeugung, dass wir richtig handeln, auch Hott tun? Und das nicht nur einmal, sondern seit mindestens 200 Jahren immer wieder und um die Wette. Wir müssen doch komplett bekloppt sein, mich inbegriffen oder ich vielleicht auch am schlimmsten, oder? Können Sie mir erklären, was mit uns „gebildeten Menschen“ los ist?

Könnten wir auch anders? Wenn ja, warum tun wir es nicht? Wenn nein, was ist der Grund dafür? Sicher sind die Anderen dran Schuld? Wenn die sich ändern würden, dann würde ich, dann würden wir das auch tun. Glauben Sie das wirklich?


19 January 2023
wf