Wir sind Menschen, Jede und Jeder ein Ich. So sehe ich mich und so bin ich fest mit mir verbunden. Das ist meine Identität. Mit dem ersten Trotzalter im Alter von 2-3 Jahren begann meine Ich-Entwicklung und dazu gehört, dass ich als Mann extrem und als Frau weniger extrem eigene Ansichten entwickele, die ich für richtig halte. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, was für Ansichten ich entwickele. Irgendeine übernommene oder selbst entwickelte oder zufällig aufgelesene Ansicht reicht da völlig. Ich werde ich. Selbstkritik? Warum können die Anderen eigentlich nicht selbstkritisch denken?
Die Anderen sind die Anderen. Ich sehe und höre Sie, nehme Sie wahr als ausserhalb von mir, als getrennt von mir, eben als Andere. Offenbar sind auch die Anderen jeweils ein Ich? Sie sehen sich selbst, sind mit sich und ihrem Körper verbunden und halten Ihre Ansicht, egal welche, für richtig. Sie sind Jede und Jeder eine Identität oder auch eine Persönlichkeit.
Es ist eine Frage der Sichtweise. Für mich bin ich ich und für die Anderen bin ich ein anderer. Die Anderen sind auch für sich selbst ein Ich und für Sie bin ich ein anderer. Weder ich noch die Anderen wechseln ihre Person. Ich bin zugleich ich und anderer und die Anderen sind zugleich Ich und Anderer. Ausser der Position, von der ich oder der Andere schaut, ändert sich gar nichts. Ich bin ich und Anderer zugleich und die Anderen für sich auch. Das ist Menschsein. Das können wir gar nicht ändern.
Hat das eine Bedeutung, eine Konsequenz? Oft sicher ja, denn meist sind unsere Bewertungen von Menschen und deren Handeln unterschiedlich danach, ob ich das bin, den ich bewerte und beurteile oder ob das ein Anderer ist. Besser und schlechter. Wenn ich aber beides zugleich bin, dann treffen besser und schlechter zusammen zu, bei mir und beim Anderen, bei Beiden etwa gleich. Dann werden besser und schlechter eine Bewertung nach zwei verschiedenen Massstäben, nicht mehr wie bisher bei einem für mich (besser) und einem für die Anderen (schlechter), sondern sie heben sich gegenseitig auf. Plötzlich lassen sich die zwei verschiedenen Massstäbe nicht mehr so gut verstecken. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass das, was ich über Andere sage, auch für mich zutrifft, nur von aussen, von der Seite der Anderen, gesehen. Die Anderen merken das auch, denn die müssen ja die Konsequenzen meines von mir für richtig gehaltenen Redens und Handelns aushalten. Die merken meine Doppelmoral, mein messen mit verschiedenen Massstäben. Da mir aber ein Fühler für meine eigenen Fehler fehlt (manchmal entdecke ist fast zufällig einen und verheimliche ihn dann schnell vor den Anderen), so merke ich meine eigene Doppelmoral, meine verschiedenen Massstäbe und damit ungleichen bzw. „ungerechten“ Urteile gar nicht.
Qualitativ sind wir gleich, ich und der andere in mir und der Andere mit seinem Ich in sich. Wir sind Menschen. Quantitativ mögen wir unterschiedlich sein. Sonst wären wir ja Klon, identisch. Bei uns Menschen als Herdentier (natürlich nur die Anderen) ist die Unterschiedlichkeit erstaunlich gering. Ich versuche mich abzugrenzen, anders zu sein, eine ich-Marke zu schaffen und weil das heute sehr Viele so tun, bin ich plötzlich in der Herde der ich-Marken-Erschaffer. Ich komme gar nicht aus meinem Sein heraus, aus meiner Identität als Herdentier „Mensch“, entweder so herum oder anders herum.
Im Zusammenleben mit den Anderen ist es sehr hilfreich, sich darüber klar zu werden, dass ich ein Ich bin und für den Anderen auch ein anderer, dass ich also beides zugleich in mir bin. Es lohnt sich, das zu üben und zu verstehen und anzunehmen. Wir nehmen unsere Widersprüche und ungleichen Massstäbe und die der Anderen eher wahr und können diese Tatsache besser annehmen. Wahrscheinlich werden unsere Beurteilungen etwas realitätsnaher, weil sie bereits mindestens zwei Seiten berücksichtigen. Aber das ist nicht einfach.
Beurteilen kann ich es selbst nicht einmal, weil ich gar nicht weiss, wer ich bin, was mein „Ich“, meine Identität tatsächlich ist.
Seit etwa zwanzig Jahren übe ich diese verschiedenen Sichtweisen. Da es viele Andere gibt, gibt es ja sogar noch viel mehr Sichtweisen. Es ist ein Fass ohne Boden. Aber wenn ich mir ein Urteil über mich, die Anderen und die Welt bilden will, dann kann ich das erst danach wirklich, wenn ich geschafft habe, mich und meine Umwelt aus meinen eigenen Augen zu betrachten (und nicht nur das) und aus den Augen meines Gegenübers und all der Anderen (und auch wieder nicht nur sehen, sondern auch hören und all die anderen Ausdrücke und Eindrücke von Menschsein). Was wäre, wenn ich auch noch versuchen würde, mich aus den Augen und aus der Sicht des lebenden Gottes zu sehen? Chancenlos, oder? Aus Sicht eines leblosen allgemeinen Seins oder der evolutionären Natur? Schwer zu sagen, wie das gehen soll.
Ich werde mir also kein Urteil über mich, über Andere, über die Welt und womöglich auch noch einen lebenden Gott erlauben dürfen. Wir alle sind ein Geheimnis. Wie forschen nach dem Wesen von uns selbst, dem Wesen der Anderen, dem Wesen der evolutionären Natur, dem Wesen des lebenden Gottes und/oder des leblosen allgemeinen Seins und haben gar keine Chance, je zu wissen, ob wir realitätsnahe oder sogar richtige Ansichten haben oder ob wir fern der Realität mit unserer Ansicht oder sogar falsch liegen. Wir können nicht mal eben nachschauen und überprüfen, ob unsere Forschungsergebnisse richtig oder falsch sind. Wir haben keine Baupläne, wissen nicht, was wir nicht wissen (Deshalb müssen wir ja forschen.) und können daher gar nicht beurteilen, ob unsere Ansicht „Wissen“ entspricht und wir können keine Minute in die Zukunft schauen (Sonst könnten wir die meisten Unfälle unseres Lebens ja verhindern), sodass wir nicht wissen, ob unsere heutige Ansicht nicht morgen schon widerlegt ist und Unsinn ist. Gott, die Welt, der Andere und ich sind ein Geheimnis, kein Rätsel!
Das sind Nüsse, die wir zu knacken haben, wenn wir uns verstehen wollen:
Ich und der andere in mir sind eins.
Seit meinem Trotzalter in 2. - 3. Lebensjahr habe ich Recht, ganz egal, ob ich Recht habe.
Einen Fühler für meine eigene Dummheit habe ich nicht.
Ich weiss nicht, was ich nicht weiss und daher weiss ich auch nicht, ob meiner Ansicht etwas entgegensteht, also ob ich überhaupt etwas weiss.
Ich kann nicht eine Minute in die Zukunft sehen. Daher weiss ich nicht, ob mein Urteil von heute (z.B. was ich tue, ist nachhaltig und zukunftsweisend …) morgen oder später noch gilt.
Ich habe keine Baupläne der Erde, des Kosmos, der Lebewesen und von allem anderen, weder von der evolutionären Natur, noch vom leblosen allgemeinen Sein, noch vom lebenden Gott, damit ich überprüfen könnte, ob meine Ansichten den Ihren entsprechen und damit angemessen sind. Stimmt nicht: Vom lebenden Gott haben wir zumindest die Bibel mit gewissen Hinweisen.
Womöglich sind unsere Ansichten im Widerspruch, entgegen den Ansichten der Drei? Was dann?