"Gleiche Rechte für alle"

Aktuell beschäftigt uns in der Schweiz die Initiative zum Verbot von Tierversuchen. Diese Initiative gibt uns die Gelegenheit, über unser Leben und unsere Wünsche nachzudenken. Insbesondere ist es heute interessant, weil sich herausstellt, dass sich unsere Ideale und die Realität so heftig beissen, dass es weh tut. Trotzdem halten wir an unseren Idealen fest, als wären sie realer als unser Leben.

Wir leben auf dieser Erde. Grob geschätzt leben wir Menschen bereits hunderttausend Jahre auf ihr. 99500 Jahre davon lebten wir in relativer Ausgewogenheit mit den anderen Lebewesen in einem fein abgestimmten Ökosystem dieser Erde. Erst mit dem Anbruch der Neuzeit hat sich das dramatisch geändert. Zuvor sind zwar in der Regel dort, wo der Mensch auftauchte, auch schon die grösseren Lebewesen ausgestorben, wie uns Herr Harari mitteilt. Auch das hat das erdliche Ökosystem schon deutlich verschoben, aber es hat sich nicht dramatisch auf die Erde ausgewirkt.

In den letzten 500 Jahren haben wir aber mit atemberaubendem und immer weiter zunehmendem Tempo das Ökosystem Erde zu unseren Gunsten verschoben. Ausser den Einzellern und geringeren Kreaturen kann uns keiner mehr wirklich etwas anhaben. Ihre Auswirkungen auf uns entfalten sich höchstens noch dadurch, dass sie ausgestorben, also nicht mehr da sind. Dass uns die kleinsten Lebewesen noch etwas entgegensetzen können, war während der Pandemie eine heftige Beleidigung für uns Herren der Erde und unsere Reaktionen darauf waren sehr informativ und nachdenkenswert.

Es wäre also für das Ökosystem Erde ausgesprochen notwendig, den anderen Lebewesen gleiche Rechte zuzusprechen wie uns Menschen. Das würde aber nicht nur den Verzicht auf Tierversuche bedeuten, sondern das würde noch viel mehr bedeuten. Die Gegner der Initiative führen an, dass es in Kürze keine neuen Medikamente mehr geben würde, weil keine mehr vor der Anwendung am Menschen auf andere Weise getestet werden könnten. Die Testung nur auf mechanische oder chemische Weise oder mittels Algorithmen reicht da nicht. Wir würden nur die ersten Menschen, die die Stoffe (die wir dann Medikamente nennen wollen) am eigenen Körper ausprobieren, zu Versuchstieren machen. Verkrüppelte und Tote würden in grösserer Zahl in Kauf genommen werden müssen. Es wird schwerlich anders gehen.

Andererseits kann ich der Forderung nach dem Verbot von Tierversuchen etwas abgewinnen. Wir sollten Tieren wirklich gleiches Lebensrecht auf dieser Erde zugestehen. Aber die Verwirklichung würde bedeuten, dass wir auf unsere Rechte, die wir uns selbst eingeräumt und erkämpft haben, verzichten. Wir müssten den Wölfen in der Schweiz das Recht einräumen, die Haustiere zu reissen, die wir zum Leben und Essen benutzen möchten (und die Landwirten ihr Einkommen sichern). Wir müssten auf neue Medikamente verzichten und unsere Krankheiten und eine kürzere Lebenserwartung aushalten. Wir müssten darauf verzichten, zu jagen, zu fangen und zu fischen sowie Tiere in Konzentrationslagern zu halten und am Ende sie oder Teile von ihnen, zu essen und damit auf ihre Kosten selbst zu leben. Mich würde interessieren, wie hoch der Anteil an der Bevölkerung ist, der dabei mitmachen würde (nicht nur andere per Gesetz und Regulierung dazu zwingen würde und sich selbst dann irgendwie darum herummogeln).

Unsere Ideale und die Realität sind zu weit auseinander. Unrealistische Ideale sind Träumereien. Wir träumen zu viel.

Da hat Mitte Dezember 2021 das deutsche Verfassungsgericht neun Behinderten Recht gegeben, die einklagten, dass sie bei Fällen von Triage im Krankenhaus/Spital während der Pandemie, die gleichen Chancen für die Behandlung haben müssten, wie Gesunde oder Junge auch. Für die Angst der Behinderten und ihre Forderungen habe ich volles Verständnis. Aber wir müssen uns klar machen, dass Triage nur gemacht wird, wenn Ressourcen fehlen (aus welchen Gründen auch immer) und dass nicht nach „behindert“ oder „nichtbehindert“ entschieden wird, sondern nach Überlebenschancen ein Rating vollzogen wird. Da könnte es natürlich sein, dass Behinderte schlechter abschneiden. Man kann nicht per Gesetz fordern, ungleiche Chancen zu gleichen Chancen zu machen. Man kann auch nicht den Staat auffordern, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht vorkommen kann. Dann müsste der sowieso schon auf Massen von Schulden sitzende Staat mit allen finanziellen Mitteln dafür sorgen, dass keine Pandemie oder keine Notfälle entstehen können, dass es keinen Mangel geben kann. Jeder mathematisch denkende Mensch wird sich fragen, wie ein Staat aus „ungleich“ einfach „gleich“ per Gesetz machen soll.

Ich schrieb an die Richter, die das Urteil verabschiedeten. Die Antwort liess darauf schliessen, dass sie nicht einmal verstanden haben, was ich wollte. Ich habe mich nicht klar genug ausgedrückt.

Ich schrieb darauf dem neuen deutschen Justizminister, dass er das Urteil gar nicht umsetzen könne. Es sei zu vergleichen mit folgender gedanklichen Vorstellung: Dass es hie und da und völlig ungerecht verteilt, brennende Häuser gibt und dass solche brennenden Häuser auch noch hohe Sachschäden und sogar Tote und Verletzte verursachen, müsste doch genug Anlass sein für die Gesetzgeber, solche Häuserbrände einfach gesetzlich zu verbieten. Warum darauf bisher keiner gekommen ist? Da wären wir doch ein Problem los, oder?
Eine sehr wesentliche Aufgabe von Justizministern ist, Gesetze zu verhindern, die nicht der Realität entsprechen. Gesetze am Fliessband ... Vielleicht sollten wir vorsichtiger werden?

Früher gab es mal Institutionen, die dafür sorgten, dass unmögliche Forderungen gar nicht erst zu Initiativen werden konnten oder Politiker sorgten dafür, dass unmögliche Forderung aus dem Volk nicht in Gesetze gegossen wurden. Vielleicht gab es ja auch Menschen im Volk, die ein bisschen nachdachten und solche unmöglichen Forderungen gar nicht erst an die Politik stellten? Heute?

Wir haben zwar unzählige Universitäten und Hochschulen, wo Ältere den Jüngeren alles Mögliche an Wissen in die Hirne trommeln, aber sind wir wirklich gebildeter, sind wir wirklich schlauer geworden? Können Sie verstehen, dass ich da Zweifel hege? Müssten wir daraus Schlussfolgerungen ziehen? Wenn ja, welche?






7 February 2022