Finanzausgleich

In der Schweiz gibt es Kantone, in Deutschland Bundesländer. In beiden Ländern sind die Gebietseinheiten unterschiedlich wirtschafts- und finanzstark. Gründe dafür gibt es viele. Wenn wir lange genug „Warum?“ fragen, kommen wir wahrscheinlich bei der unpersönlichen Evolution oder bei einem allgemeinen Sein oder bei einem (persönlichen?) Gott an. Offenbar hatten die eine wahnsinnige Freude am Entwickeln oder Schaffen und hatten so viel Zeit und Fantasie, dass ihnen immer wieder etwas Neues einfiel. So entstand eine schier unfassbare Diversität, vor allem im Bereich des lebenden Kosmos. Gleichheit und wahrscheinlich auch Gleichberechtigung, Gleichmacherei, Neid waren ihnen so etwas von fremd und zuwider, dass sie gar nicht an uns Menschen gedacht haben, die wir ja nun vor Neid platzen und bei jeder Kleinigkeit, die wir als Ungerechtigkeit empfinden, weil wir schon wieder neidisch auf die Anderen blicken, lautes Geschrei, Tatütata, Gerichtsverfahren und sogar Kriege beginnen. 0-Toleranz bei uns. Stop, natürlich nur bei den Anderen! Sie sind ja absolut tolerant! Da sind Sie sich sicher. Bei meiner Toleranz gibt es zwar unscharfe, aber eindeutige Grenzen.

Nun gibt es da also Kantone oder Bundesländer, die mehr Intelligenz sammeln konnten, mehr Firmen, mehr Arbeitsplätze, mehr Produktionsstätten, damit natürlich mehr Steuern und damit mehr finanzielle Möglichkeiten, also Wohlstand oder sogar Reichtum. Wie machen die das? Auch da gibt es wieder eine ganze Menge verschiedener Möglichkeiten. Nicht nur die drei oben genannten haben Fantasie. Auch wir Menschen wurden von den Drei damit gesegnet. Wozu benutzen wir die Fantasie? Ja, die Cleveren nutzen sie, um schneller, besser, höher etc. den Nutzen aller möglichen Dinge in Richtung ihrer eigenen Interessen zu lenken. Oft schafft Derjenige, der zuerst auf diese Weise Mittel und Eigentum gewinnen konnte, dies leichter und weiter zu vergrössern, als die später Kommenden. So vergrössern sich die Abstände und die Clevereren erscheinen immer cleverer, die Anderen allerdings auch immer dümmer und ärmer. Diverse Fehler, Glück oder Pech, auch mal Clevere auf der „falschen“ Seite und umgekehrt, können diese Entwicklungen natürlich stören. Als die oben genannten Drei uns Menschen entwickelten oder schufen, haben sie auch für später immer wieder Diversität mit eingebaut. Nicht nur ja, ja oder nein, nein, sondern auch ja, nein und nein, ja und allein das in millionenfachen Folgen mit immer wieder neuen Kombinationen. Wenn wir heute „Naturgesetze“ formulieren wollen, sollten wir uns immer darüber klar sein, dass die Fantasie der Drei noch immer nicht erschöpft ist und dass sie daher fix mal anders entscheiden können und es offenbar auch tun, als unsere „Naturgesetze“ uns das vorhersagen würden. Wer weiss?

Nun sind also unsere Kantone oder Bundesländer wirtschaftlich und finanziell immer unterschiedlicher geworden. Die reichen sagen „Ätsch!“, was sind wir gut, die armen sind den Tränen nahe. Verlierer. Verlierer sein ist nicht schön, schon gar nicht, wenn es um die Lebensrealität geht und nicht nur im (Fussball-)Spiel. (Die Emotionen und Schäden nach den Spielen oder die Kosten und das Ausmass des notwendigen polizeilichen Einsatzes, um diese zu verhindern, zeigen es uns.)

Also musste ein Finanzausgleich geschaffen werden, der diese Ungleichheiten wenigstens teilweise wieder ausgleichen soll. Schliesslich wollen wir alle Gleichheit und so werden die Ärmeren den Reicheren doch wieder etwas gleicher. „Wartet mal, bald haben wir Euch eingeholt.“ „Das können wir auch!“

Es fliesst Geld von den Reicheren zu den Ärmeren, natürlich nicht so viel, wie die Reicheren mehr eingenommen haben, sondern weniger. Sonst wäre das ja nicht gerecht. Die Reicheren waren ja schliesslich cleverer, fleissiger, erfolgreicher. Aber so gerecht ist das doch nicht, denn die bleiben ja doch reicher, nur nicht so viel. Was wäre denn nun gerecht? Die Armen gleich reich zu machen, wie die Reichen oder den Reichen mehr zu lassen, denn sie waren ja cleverer als die Dummen? Ach so? Wir meinen gar keine Gerechtigkeit, denn die müsste ja von beiden Seiten gleich aussehen, oder. Sie müsste ja für alle gleich gelten?

Ein Jahr später wird wieder abgerechnet. Die Cleveren sind noch reicher geworden, die Ärmeren noch ärmer. Das gleiche Spielchen wie im Jahr zuvor wieder. So geht das Jahr um Jahr. Die Einen sind eben clevererer und die Anderen sind eben dümmerer. Offenbar steht da ein System dahinter? Offenbar sind das Folgen der Entwicklung oder Schöpfung (ganz egal, wie) durch die Evolution und/oder das allgemeine Sein und/oder Gott. Wir sind, wie wir sind und was wir „Gerechtigkeit“ nennen, ist offenbar nur ein anderer und viel schönerer Ausdruck für Neid und der ist bekanntlich von jedem Ich bereits im zweiten Lebensjahr entwickelt und wird mit zunehmendem Alter nicht weniger. Unseren Neid zu zügeln ist eine schwierige Lebensaufgabe bis zum letzten Lebenstag.

Wie schaffen die Reichen es nur, immer wieder so viel Geld zu scheffeln, dass es bei denen immer mehr wird?

Die Kantone sind Teil eines Ganzen, eines Landes Schweiz und die Bundesländer ebenso, eines Landes Deutschland. Wenn also die Einen Firmen und Produktionsstätten auf ihrem Gebiet mehr ansiedeln können, dann fehlen die bei den Anderen. Was bei den Einen mehr wird, wird also bei den Anderen weniger und umgekehrt. Von daher stellt sich die Frage, ob es denn tatsächlich sinnvoll ist, alle möglichen Firmen, Produktionsstätten und Menschen auf dem Gebiet der Clevereren anzuhäufen. Vielleicht sollten diese bewusst, die Firmen auch bei den weniger Cleveren (oder gar bei den Dummen?) ansiedeln? Dann würde sich nicht alles bei den Clevereren konzentrieren und dort die Preise in jeder Hinsicht steigern, sondern niedriger halten und bei den weniger Cleveren würden sich auch Betriebe ansiedeln und für Wohlstand sorgen. Der Finanzausgleich würde an Bedeutung abnehmen oder er würde überflüssig.

Mit unserem Wettstreit, unserer Konkurrenz, unserem mehr als Du oder mehr als Ihr schaffen wir selbst die Differenz, die Armut, die wir später mit dem Finanzausgleich wieder ausgleichen wollen oder wegen des Gejammers der Ärmeren sogar müssen (aber bitte nicht vollständig). Und wenn wir dann auch noch per Gesetz Gleichheit für Alle festschreiben (wie es ja bei den Ländern, die bisher von der weissen Rasse bewohnt wurden, so üblich ist), dann müssten wir sogar so viel ausgleichen, dass die Ärmeren gar nicht ärmer bleiben. Das wäre ja nun für die Einen gerecht und für die Anderen völlig ungerecht.

Jetzt haben wir gleich zwei Probleme. Mit unserem Wettkampf um die besten und die meisten Firmen schaffen wir auf der anderen Seite Armut, die wir dann wieder ausgleichen müssen und ja notgedrungenermassen auch wollen, damit das Gejammer der Armen endlich aufhört. Zusätzlich schaffen wir uns noch ein Gerechtigkeitsproblem. Denn wenn wir mit dem Finanzausgleich den Ärmeren Geld überweisen zum Ausgleich, dann schaffen wir wieder eine Differenz. Wir geben denen etwas zum Ausgleich, um Gleichheit zu schaffen, aber nehmen uns dieses Geld weg, was wir natürlich als ungerecht empfinden, weil wir doch cleverer sind und deshalb müssten wir ja mehr haben als die Anderen. Gerechtigkeit für alle ist wohl erstens evolutionsbedingt oder Gott-bedingt gar nicht möglich und zweitens ist es wohl gar nicht „Gerechtigkeit“, sondern Neid. Haben wir uns bisher so geirrt?

Was nun? Wir sind doch clever. Wir konkurrieren nicht mehr innerhalb der Schweiz, nicht zwischen den Kantonen, sondern wir bilden eine staatliche Einheit und wir konkurrieren jetzt zwischen den Staaten, innerhalb der EU, innerhalb der verschiedenen anderen Paktsysteme auf der Welt, ja mit allen Ländern der Welt.

Zum Glück stimmt das Weltbild allein so nicht. Wir konkurrieren ja nicht nur, sondern bei aller Konkurrenz arbeiten wir ja auch noch zusammen. Wenn es nur Konkurrenz gäbe, gäbe es ja keine Lieferketten. Die Jahre zwischen 1989 (Ende des kalten Krieges) und etwa 2020 (Beginn der Covid-19-Pandemie) haben ja doch auf der Welt eine erstaunlich gute Zusammenarbeit wachsen lassen. Das war eine Glückszeit für uns alle. Aber nun? Jetzt muss erst einmal der neue Kalte und teilweise heisse Krieg ausgefochten werden, bis wir wieder zusammenarbeiten können, falls das nach einem Sieg einer alliierten Partei überhaupt noch möglich ist. Wenn ja, dann sicher eher zwangsweise verordnet durch den Siegerpakt? So ist das nach Kriegen.

Das System von clevererer und dümmerer funktioniert nicht nur innerhalb der Schweiz und innerhalb Deutschlands so, sondern ausserhalb genauso. Durch unsere Konkurrenz um die schnellsten, besten, effektivsten, leistungsfähigsten Systeme und in der Folge Ansiedlung der Produktionsstandorte und -Lieferketten in unseren Ländern, schaffen wir auf der anderen Seite ärmere, dümmere, Länder mit weniger Produktion und weniger Arbeitsplätzen. Da wir Reicheren mit unseren Gütern, die die Anderen natürlich auch bitter nötig haben, in gewissen Grenzen die Preise diktieren können (denn die Armen sind ja in Not), können wir die Gewinnspanne vergrössern, denn wir wollen ja auch Gewinne haben. Unsere Wirtschaften und Betriebe funktionieren nur, wenn wir Gewinne machen. Sonst funktionieren die gar nicht. Wir schaffen uns also selbst die Armut, die wir hinterher mit Finanzausgleich oder Entwicklungshilfe oder Darlehen oder anderen Hilfsaktionen wieder auszugleichen suchen. Clever, was? Aber wie das auf dieser Welt so ist: „Clever ist womöglich gar nicht nur clever und vielleicht funktioniert das sogar auch umgekehrt? „Dumm ist nicht immer nur dumm.“?“

Wer weiss? Wir wissen ja nicht, was wir nicht wissen und können daher auch nicht sagen, ob etwas uns Unbekanntes unserer Ansicht (die wir natürlich für „Wissen“ halten) entgegen steht! (Ich zumindest weiss es nicht. Sie werden ja sicher wissen, was Sie nicht wissen.)

Es gibt ja in den letzten zweihundert Jahren inzwischen viele Wirtschaftstheorien. Meist gehen sie davon aus, dass die Marktteilnehmer bestens Bescheid wissen, bestens vernetzt sind, völlig rational entscheiden, optimal zusammenarbeiten. Aber Konkurrenz ist nicht Zusammenarbeit. Konkurrenz heisst eher, nicht zusammenarbeiten, eher mal auf Kosten der Anderen kämpfen. Wettlauf, Konkurrenz, Wettstreit ist nicht Zusammenarbeit, sondern Streit (wenn es gut läuft, dann in gewissen Grenzen, wie beim Sport). Wir schreiben das auch noch stolz in die NZZ und merken gar nicht, dass wir A meinen, aber G sagen? Beim Konkurrenzdenken gibt es Verlierer und die Gewinner prahlen dann mit ihrem Sieg und verurteilen die Praktiken des Verlierers, wie erst jüngst geschehen beim Verlieren der Credit Suisse. Gibt es auch Wirtschaftstheorien, die uns den Mangel unseres Denkens, den Mangel unseres Handelns, die Widersprüchlichkeit unseres Marktes demonstrieren? Bloss das nicht, oder?


31 July 2023
wf