Controlling

„Die Schweizer Finanzmarktaufsicht fühlt sich im Fall Credit Suisse zu Unrecht kritisiert“ (NZZ vom 6. April 2023)

Ja, das ist schon ein Ding. Ein kleines Land, reich an Intelligenz und klugen Leuten, reich an Geld, reich an Wissenschaft, reich an Erfahrung, reich an Schönheit, neutral und daher so weitgehend unabhängig, wie eben möglich, direkt demokratisch organisiert und wer kann seine eigene Zukunft besser beurteilen, als das Volk, als der Souverän? Bessere Voraussetzungen für nachhaltiges Wirtschaften, nachhaltiges Organisieren und ein nachhaltiges Finanzwesen sind doch kaum denkbar, oder?

Und dann das!??? Das kann doch nicht sein? Da kann doch etwas nicht stimmen?

Klar, dass nun die staatlichen Organe in der Pflicht sind, einerseits zur Regel- oder Gesetzesvorgabe und engeren Regulierung, andererseits zum Controlling und natürlich zum Retten. Dumm, dass wir Demokraten sind, denn das bedeutet ja, dass wir nun dran sind, nur eben nicht als Einzelne, sondern als Gesamtheit, als derzeit vorbildlich für alle demokratisch organisierter Staat eben.

Da muss doch die Regulierung und das Controlling versagt haben? Oder? Da müssen wir die Gesetze noch klarer und strenger formulieren und die Kontrollbehörde muss noch mehr Mittel an die Hand bekommen, um solche Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und Zusammenbrüche zu verhindern. Auf, an die Arbeit!

Vielleicht denken wir erst einmal ein wenig nach? Was kann denn eine Regierung überhaupt regeln? Natürlich kann sie regeln: Das dürfen wir und jenes dürfen wir nicht. Das sollen wir und das sollen wir nicht. Es ist schon schwer genug, das sauber und gerichtsfest zu formulieren, damit es hinterher nicht anfechtbar ist. Noch schwerer ist es, diese Gesetze so zu formulieren, dass hinterher nicht Heere von Rechtsanwälten kommen und Wege suchen, wie man mit dem Gesetz umgehen kann und soll und wie man es auch legal umgehen kann. Die einträglichsten Wege sind ja meist die, zumindest zu Anfang, die noch kein Anderer entdeckt hat, also auch der Gesetzgeber nicht, noch kein Konkurrent und dann natürlich auch keine Kontrollbehörde. Wenn die Anderen den Weg erst entdeckt haben, verlässt man ihn am besten, sucht sich einen neuen und überlässt die Nachteile, die gegenseitige Konkurrenz, die Kosten und den Ärger mit der inzwischen wachgewordenen Kontrollbehörde und der Regierung den Anderen, den Nachmachern eben.

Illegale Praktiken muss eine Kontrollbehörde natürlich aufdecken und ahnden. Da besteht gar keine Frage. Aber auch da müssen wir eingestehen, dass eine Kontrollbehörde meist erst einen Schritt zu spät kommen kann. Die Cleveren, die Flexiblen, die Erfinder sind natürlich schneller und eher, sind die Ersten. Selten wird eine Kontrollbehörde schneller als der Erfinder sein. Wenn die Kontrollbehörde tatsächlich schneller ist, dann muss sie erst noch die Regierung oder gar das Parlament informieren und vom Handlungsbedarf überzeugen. Die müssen dann eine neue Gesetzesregelung formulieren und im Parlament und/oder der Regierung eine Mehrheit finden, damit das hoffentlich perfekte und wasserdicht formulierte Gesetz dann auch verabschiedet wird. Inzwischen sind die Erfinder, die Umgehungswege suchenden Rechtsanwälte (oder Unrechtsanwälte?) schon längst viel weiter. Die Kontrollbehörde hat gar keine Chance, effektiv zu kontrollieren. Das kann gar nicht gehen.

Dann geht es sogar noch einen Schritt weiter: Die vom Souverän gewählten Parlamente und Regierungen geben also ganz legale Praktiken vor. Die Banken und Versicherungen und Bürger halten sich an die ganz legalen Regeln. Die Gesetzgeber haben die Gesetze nach bestem Wissen und Gewissen formuliert, diskutiert und verabschiedet. Noch besser kann man Gesetze gar nicht schaffen. Woher wissen wir, dass die Gesellschaft sich in den nächsten zehn Jahren nicht so ändert, dass manche Regelungen nicht mehr angemessen sind, dass andere ihre Wirkung durch unvorhergesehene Entwicklungen oder auch durch legale Umgehungen sich falsch entwickeln und schlimmstenfalls jetzt sogar das Gegenteil bewirken? Hier kann eine Kontrollbehörde nicht einschreiten, weil ja alles legal zugeht. Das ist gar nicht in ihrer Verantwortung. Allenfalls könnte man die Regierung oder/und die Parlamente zur Verantwortung ziehen: „Sie haben die Gesetze falsch gemacht!" Aber wer sollte sie bestrafen? Wie sollte man sie bestrafen. Selten wird ein Politiker die von ihm verursachten Schäden in irgendeiner Weise wieder gut machen können. Dazu sind die Auswirkungen oft viel zu gross.

Früher gab es einen lustigen Satz: Kann Gott einen Stein schaffen so gross, dass er ihn nicht heben kann? Heute würde ich den Satz ein wenig anders formulieren: Gibt es einen Menschen in verantwortlicher Position, der so schlau ist, dass er weiss, dass er schwerlich etwas richtig oder besser machen kann?

Wenn etwas schief läuft, brauchen wir einen Schuldigen. Die Verantwortlichen in der Kontrollbehörde, Männer wie Frauen und demnächst in der Mehrzahl Frauen dürfen sich schon darauf freuen, die Schuldigen zu sein. In den Parlamenten und Regierungen gleichfalls. So ist das bei uns. Wenn etwas schief läuft, dann ist der Verantwortliche schuldig, selbst wenn er gar keine Möglichkeit hatte, einen guten und wirkungsvollen Job zu machen. Da denken wir lieber nicht so genau nach. Sonst hätten wir womöglich gar keinen Schuldigen (oder wären womöglich noch selbst schuldig?).

Anderes Beispiel: Seit vielen Jahren ist bekannt, dass in Pflegeheimen und anderen medizinischen Einrichtungen immer wieder Fehler oder Schlimmeres passieren. Es gab Rechtsstreitigkeiten und Gerichtsverfahren. Oft mussten die Verfahren ohne Schuldigen und Strafe abgebrochen werden, weil die Beweise fehlten. Klar, was passierte? Die Pflegenden wurden zur Qualitätssicherung verpflichtet und einer genauen Aufzeichnung jeder Tätigkeit unterworfen, damit erstens keine Fehler mehr passieren und damit zweitens jeder Fehler später nachweisbar oder abstreitbar ist und Strafe möglich wird oder verhindert werden kann.

Immer wieder höre ich aus Pflegeheimen und Spitälern, dass Gepflegte und Angehörige sich beklagen, dass Pflege nur noch eingeschränkt stattfindet und dass die Pflegenden überwiegend an Computern sitzen, um jeden Handgriff oder jede Messung etc. zu dokumentieren, damit nachgewiesen werden kann, was sie gemacht haben, was sie falsch gemacht oder was sie nicht gemacht haben. Inzwischen hat das zur Verdopplung des Bedarfs an Personal geführt, Personal, das wir gar nicht mehr bekommen (denn das arbeitet ja jetzt in der Verwaltung, in der Justiz, in der Informatik, in der Werbung, in der Wissenschaft oder Kultur und Bildung). Unsere Qualitätssicherung hat also zur Minderung von Qualität, zu mehr Bürokratie, zu mehr Kosten und mehr Frust geführt. Da kann doch etwas nicht stimmen? Wie kann das sein, dass mehr Qualität zu weniger Qualität führt?

Gewinnen Sie nicht auch den Eindruck, dass wir Menschen, da sind doch beide Geschlechter, Männer wie Frauen betroffen, gar nicht in der Lage zu sein scheinen, angemessene Organisation zu schaffen? Früher, vor dem digitalen Zeitalter, als ich noch jung war ... Früher, vor dem Zeitalter des Feminismus, war wenigstens nur die männliche Hälfte der Menschheit so dumm. Heute sind es beide Geschlechter, also alle? Was haben wir gewonnen? Was haben selbst die Frauen gewonnen (z.B. Die Präsidentin der Finanzmarktaufsicht, Frau Marlene Amstad oder unsere Finanzministerin, Frau Karin Keller-Suter)? Ich bitte um Entschuldigung, meine Damen. Vielleicht ist Fragen stellen sogar zum Nutzen von Frauen?

Natürlich gibt es auch eine ganze Menge Kontrollmassnahmen, die ihren Zweck erfüllen. Da läuft ja alles richtig. Da müssen wir nichts optimieren. Allerdings habe ich den Eindruck, dass viele unserer Verantwortlichen selbst das Optimale noch besser machen müssen. Was für ein Ergebnis mag da herauskommen? Auch darüber lohnt es sich, mal nachzudenken. Vielleicht würde das sogar viel Stress und Bürokratie in unserer Arbeitswelt, Politik und Gesellschaft verringern?

Heisst das nun, dass wir das Controlling getrost abschaffen können? Es ist ja hochgradig falsch wirksam? Das Personal könnten wir doch in Zukunft in der Pflege am Menschen anstellen? Das ist eine sehr interessante Frage. Es gibt darauf eine ebenso interessante Antwort, aber die verrate ich Ihnen nicht. Vielleicht verraten Sie die Antwort mir?




16 April 2023
wf