Sehr verehrte Schweizerinnen und Schweizer. Was ich jetzt nachdenke, ist nicht gegen Sie gemeint. Ich darf bei Ihnen leben und arbeiten und so bin ich natürlich in Ihrer Gesellschaft und denke über Sie und mich nach. Vieles gilt für die Deutschen ganz ähnlich und vermutlich für viele Völker. Aber nachdenken heisst nun mal zunächst, dass wir über uns nachdenken und damit vor allem gegen unsere Intuition und gegen unsere eigenen Ansichten nachdenken.
Dieser Tage erlebe ich wieder einen Menschen, der meiner Ansicht nach von der IV-Versicherung ganz einfach als arbeitsfähig eingeschätzt wird obwohl die behandelnden Ärzte und eigentlich auch jeder, der mit ihm zu tun hat, relativ schnell merken, dass er gar nicht arbeitsfähig ist. Auch jeder Arbeitgeber oder Personalverwalter ist sich innerhalb von Minuten klar, dass er den auf jeden Fall nicht einstellen wird. Da gibt es gar keine Frage. Er ist sogar wegen zwei verschiedenen Krankheiten und Gründen arbeitsunfähig, also 2x100 % arbeitsunfähig.
Wie kommt es eigentlich zu dieser extremen Diskrepanz der Einschätzungen? Ich hatte wegen solcher Beobachtungen schon an fast alle Schweizer Parlamentarier und Regierungsmitglieder geschrieben. Sinnvolle Antworten bekam ich bisher nur einmal, vom BAG. Dort beschied man mir, dass sich das BAG alle Mühe gebe, angemessene und detaillierte Regelungen zu treffen und über die zuständigen Institutionen und Organe im Land für die bestmögliche Ausbildung der Gutachter sorge, damit die entsprechenden Kranken objektiv eingeschätzt werden könnten.
Ich schrieb zurück, dass mir genau das bewusst ist und dass ich diese Einschätzung voll und ganz teile und dankte ihnen für ihren Einsatz. Das ist ja der Grund, weshalb ich so erschrocken bin und nachdenklich über diese Diskrepanz zwischen unserer Vorstellung, unserem Wollen und unserem Tun und dem, was am Ende als Ergebnis herauskommt. Da stimmt doch etwas nicht.
Meines Erachtens gibt es mindestens zwei Möglichkeiten, auf diese Diskrepanz zu reagieren:
Die erste Art und Weise betreiben wir seit Beginn der Neuzeit. Die Anderen vor uns hatten eine falsche Weltsicht oder waren einfach noch zu dumm. Wir schaffen das jetzt. Wir haben die richtige Weltsicht. Wir haben bisher nur nicht genau genug geforscht, nicht detailliert genug alles verstanden, die Gesetze und Regeln nicht klar genug gefasst, nicht genug Strafen bei Zuwiderhandlungen eingebaut. Kurz: Wir müssen alles noch besser, noch intensiver, noch genauer ... Wir sind nur noch nicht am Ziel, aber wir haben das Ziel klar im Auge und bald sind wir da. Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir haben endlich Recht!
Was aber wäre, wenn diese Art von Verständnis gar nicht der Realität nahe kommt? Was wäre, wenn diese Denkweise realitätsfremd wäre und daher diese Diskrepanz der Beurteilungen zustande käme? Wonach sollten wir uns denn dann richten?
Ich hätte dazu ein paar Ideen. Was „richtig“ ist, wissen ja sowieso nur die unter uns, die glauben „Recht zu haben“ und die glauben, zu „wissen, was richtig ist“. Zugegeben, das sind in der Schweiz und in Deutschland sehr, sehr viele, ja in der ganzen Welt. Womöglich wäre die Einschätzung, das gar nicht zu wissen, viel realitätsnäher?
Da stellt sich z.B. die Frage, ob wir von aussen beurteilen können, wie es einem Menschen geht, ob er krank ist, wie er leben kann und was er leisten kann. Ich bin selber Gutachter, zunehmend ungern, weil ich merke, dass eine solche Beurteilung ausgesprochen schwierig ist. Ich neige dann offensichtlich dazu „In dubio pro reo“ anzuwenden, wobei ich zugeben muss, dass das eigentlich in unserem System nicht stimmt, weil ja der Kranke oder Versicherte bei der Versicherung einen Rentenantrag stellt und damit formal die Versicherung die „Beklagte“ ist. In den ersten Jahren nach Schaffung dieser Versicherungen hat man die Regelungen recht grosszügig gestaltet, so dass die Versicherten und Kranken recht einfach zu Renten kamen. Da war auf Grund der grosszügigen Regelungen eine „falsche“ Beurteilung des Krankheitszustandes des Versicherten unerheblich, weil er fast sowieso eine Rente bekam. Im Zweifel wurde jedenfalls für den Kranken entschieden.
Seitdem klar ist, dass unsere Versicherungen gar nicht so viel Geld haben, dass sie so grosszügig bis verschwenderisch sein können, wurden die Regelungen sehr viel einschränkender. Nun muss genau nach allen Seiten geprüft werden, wie hoch die Einschränkungen in Gradeinteilung tatsächlich sind. Dazu haben die Wissenschaft und die Politik eine Vielzahl von technischen Untersuchungsmethoden, von Fragenkatalogen, von zu bedenkenden Fakten etc. erfunden, zusammengetragen und aufgelistet. An solch einem Gutachten sind heute mindestens eine Handvoll Untersucher beteiligt und die Zahl der Seiten eines solchen Gutachtens ist mindestens dreistellig. An der Genauigkeit und Präzision der Wissenschaftler, der Gesetzgeber, der Untersucher resp. Gutachter und am Ende der Entscheider kann es doch damit kaum liegen? Die Kosten eines solchen Gutachtens reichen ja bald an die Kosten der Rente, in vielen Fällen zumindest inzwischen einer Jahresrente. Jetzt muss der Kranke beweisen, dass er nicht mehr arbeiten kann und der Gutachter muss diesen Beweis mit technischen Beweisen unterlegen und der Entscheider bei der Versicherung muss dann diese Beweise auch verstehen und vor allem als Beweis glauben.
Wieso kommt bei einer solchen Genauigkeit eine solche Diskrepanz zustande? Da kann doch an unserem selbst gebauten System etwas nicht stimmen? Wo haben auf dieser Welt die Bürger mehr Einfluss auf die Gestaltung dieses Systems als in der Schweiz? (Bitte fassen Sie das nicht als Vorwurf auf, sondern als Frage.)
Ich fürchte, es liegt daran, dass wir Menschen sind und keine Maschinen und schon gar keine fehlerlosen Maschinen. Wir gestalten unsere wissenschaftliche und gesellschaftliche und politische Verfasstheit, als wären wir Menschen Autos. Wir messen, bilden ab, ergründen Muster, vergleichen mit Anderen, schaffen Regelwerke und erwarten am Ende auch noch, dass alle gleich behandelt werden, dass wir damit ein gerechtes Einteilungssystem haben. Jetzt werde ich fies: Das stimmt sogar. Wir haben ein relativ „gerechtes“ System geschaffen. Meine beobachtete Diskrepanz ist nicht ein Einzelfall. Ich kenne eine ganze Reihe davon und alle folgen dem gleichen Muster. Diese Kranken werden nach unserem System alle in gleicher Weise so diskrepant beurteilt. Gleichheit haben wir in der Diskrepanz von subjektiver und angeblich „objektiver“ Beurteilung. Gleichheit haben wir nach meiner Ansicht (ich betone, nach meiner Ansicht) in der „unrealistischen“, vielleicht sogar „falschen“ Beurteilung. Das ist nicht ein einzelner Fehler, sondern ein systematischer. Die systematischen Fehler wirken sich viel breiter aus als die einzelnen. Da haben wir also unser Ziel erreicht?
Seit meiner Arbeit in der Medizin der Schweiz fiel mir auf, dass man hier in der Medizin tatsächlich von „objektiven Befunden“ ausgeht. Das steht so in den Arztberichten, in den Austrittsberichten aus Spitälern und auch wörtlich ich den Gutachten und Formularen. Das habe ich so extrem bisher nur in der Schweiz erlebt, in Deutschland kaum. Dem kann doch wohl nur die Vorstellung zugrunde liegen, gemessene, von aussen erhobene Befunde seien objektiv. Wissenschaftler besitzen natürlich grösstenteils ein Selbstbewusstsein, das es ihnen ermöglicht, Ihre Befunde, Ansichten und Bewertungen als „objektiv“ oder als „Wissen“ zu betrachten. Dürfen wir dem folgen? Müssen wir nicht eher die Frage stellen, zumindest bei der Forschung am Menschen, ob nicht der Mensch das eigentliche Subjekt ist, der, um den es geht und der seinen Körper fühlt und teilweise versteht. Ich als Arzt habe andere Einsichten oder Ansichten, ein anderes Verständnis vom menschlichen Körper, verstehe vielleicht auch manche Mechanismen im menschlichen Körper besser als der Patient selbst. Ich hoffe das zumindest, aber „objektiv“? Müssen wir nicht eher von einer neuen Sichtweise, aber von einer neuen „Relativität“ ausgehen? Wir können nicht einfach von einer „Objektivität“ der Messmethoden, der statistischen und wissenschaftlichen Methoden ausgehen. Sie schaffen eine neue „Relativität“ die durchaus realitätsnäher als die vorhergehende sein kann, die nun durch die neue Relativität ersetzt wird. So funktionierten ja die Wissenschaft und Medizin in der ganzen Geschichte der Menschheit. „Wir wissen heute... Wir können objektiv sagen, dass...“ Vorsicht! Stimmt das? Sind wir nicht viel zu selbstbewusst? Ist unser heutiges „objektives Wissen“ morgen nicht vielleicht nach neuen Erkenntnissen zwar objektives, aber eben „Falschwissen“?
Meine sehr verehrten Schweizerinnen und Schweizer, ich bin wieder fies. Ich bitte um Entschuldigung. Stammt diese Einschätzung von „objektiv“ nicht noch aus einer Zeit als jeder Dorfbewohner dem anderen misstraute und neidisch schielte, „der hat etwas, was ich nicht habe oder der hat sich auf Kosten der Anderen bereichert“ und dann hat man gemessen, gewogen und Gesetze und Regeln geschaffen, um alle gleich zu behandeln. Diese Befunde und Gesetze hat man dann als „objektiv“ vor Gericht angewendet, um Gleichheit und Gerechtigkeit zu schaffen? Heute ...
Zurück zu unserer Begutachtung von Menschen und den Ergebnissen dieser Untersuchungen.
Leben ist gekennzeichnet durch eine Isolation des Einzelnen in seiner Haut, in seiner Grenzstruktur. Das beginnt bereits beim Einzeller in seiner Zellwand und endet derzeit beim Menschen in seiner Haut. Über die Evolution hinweg hat sich diese Isolation nur vergrössert. Das merken wir heute beim Menschen in seiner Vielfältigkeit, seiner Gefühlswelt, seinem Bewusstsein und Selbstbewusstsein, unserer egoistischen Beurteilung von innen und aussen, an unserem eigenen Festhalten oder besser noch Schaffen von Recht und Freiheit (natürlich der eigenen). Heute von aussen einen Menschen beurteilen zu wollen, dann auch noch mit technischen Instrumenten, nach Regeln und Gesetzen von aussen und dann eine „objektive“ Beurteilung hinzubekommen...? Deshalb sind die Gutachten ja heute so lang und detailliert und kosten so viel. Müssen wir nicht eigentlich unser Unvermögen einsehen? Das geht gar nicht? Das kann gar nicht gehen? Die Fülle der gesammelten Daten macht es uns nicht einfacher, sondern schwerer und am Ende kommt ein Ergebnis heraus, das in der Nähe des Gegenteiles von realitätsnah (geschweige denn von richtig) ist?
Dann kommt noch dazu, dass wir manche Gebrechen relativ einfach messen können. Wenn einem Menschen ein Bein fehlt oder ein Gelenk steif ist, dann können wir wahrscheinlich relativ einfach messen und beurteilen, was er noch kann und was nicht. Wenn wir aber Schmerzen als Einschränkung oder Atemnot als Einschränkung oder psychische Zustände als Einschränkung zu beurteilen haben? Was dann? Natürlich, die Wissenschaft, die WHO, die Versicherungen und die Politik haben uns einfach Regeln und Regelwerke und Gesetze und Methoden geschaffen nach der Devise „Egal, ob es geht oder nicht, wir machen es einfach“. Wir sind schliesslich heute Macher und nicht Nachdenker. Die Philosophie ist eine wertlose Randerscheinung unserer Kultur, vor allem unserer Wissenschaft. (Ist diese Einschätzung nicht ungeheuerlich? Aber entspricht sie nicht unserer Realität?) Ich habe Jahrzehnte gebraucht, um in meinem Fachgebiet, der Pneumologie, herauszufinden, dass viele der von der medizinischen Wissenschaft evaluierten und angebotenen Mess- und Beurteilungssysteme nicht die Realitätsnähe aufweisen, die durch die statistische Evaluation vorgegaukelt wird. Die Genauigkeit von Messmethoden können wir nur in der Realität bestimmen. Für die Realität gibt es gar keinen Ersatz. Statistik ist zwar eine Möglichkeit, manchen Ausschuss auszusortieren und gar nicht erst oder nicht mehr zu gebrauchen. Die Angabe von statischen Wahrscheinlichkeiten ist aber nur ein mehr oder weniger guter Ersatz für die Überprüfung in der Realität. Wenn man im realen Leben beobachtet und nachdenkt, erscheint der Wert der Statistik sogar als sehr relativ. Es kommt dazu, dass wir nicht alle Störungen, Einschränkungen und Krankheiten nach dem gleichen System beurteilen können und dann glauben können, es kämen realitätsnahe und vergleichbare Beurteilungen heraus. Eigentlich geht es um uns Menschen in unserer Vielfalt, wie wir sind und nicht nach Messwerten von aussen, die mehr oder weniger unser „innen“ widergeben. Objektivität? Ich denke, das ist eine elegante Selbsttäuschung oder Dummheit. Diese Messwerte sind alle unter bestimmten Bedingungen und Umständen und mit Techniken aufgenommen, die bestimmte Seiten und Teile des menschlichen Körpers gut abbilden und andere schlecht oder gar nicht. Bei jedem Messwert müssen diese Bedingungen alle in die Bewertung einfliessen. Das macht die Bewertungen so relativ. Jeder bewertet das wieder ein bisschen anders (auch wenn die Wissenschaft da Guidelines oder die Politik länderübergreifende Standards geschaffen haben). Mich wundert, das ausgerechnet die „Gebildeten“, die heute an den höchsten Stellen der Gesellschaft Tätigen, sich so dieser Selbsttäuschung hingeben. (Ich bitte wieder um Entschuldigung!)
Im genannten Fall hat die IV-Versicherung in der 45. Kalenderwoche endgültig entschieden, dass der Kranke zu 100 % arbeitsfähig ist. Wir alle um den Kranken herum staunen ob der Weisheit der Gutachter und Entscheider. Seine betreuende Rechtsanwältin einer solche Kranke beratenden und vertretenden NGO sagte mir am Telefon, dass nun nur ein Prozess übrig bliebe. Sie wolle zunächst den Betroffenen anhören und sich die Beweisführung zur Einsicht kommen lassen. Wenn ich die Lage richtig einschätze, wird er das Geld für die Prozesskosten nicht haben. Wer wird ihm die bezahlen? Wird das Gericht andere Massstäbe anlegen? Es muss sich ja auch an die gesetzlich vorgeschriebenen Massstäbe halten, genau wie die Versicherung und wie die Gutachter auch. Wollen wir uns mal als Propheten betätigen?
Einige Tage später mailte mir der Patient einen Brief der Rechtsanwältin. Sie schreibt, dass sie die Beweisführung durchgesehen habe. Sie sehe keine Chance für einen Gewinn eines Rechtsstreits in seinem Falle. Sie lege daher ihr Mandat nieder, dankte für das Vertrauen meines Patienten und verabschiedete sich.
So wurde also meine Erwartung noch früher erfüllt, als ich vorhersah.
Da er Migrant ist, inzwischen leider vom Sozialamt leben muss und das Migrationsamt schon seine Akte bearbeitet, dürfen wir wieder Prophet spielen.
Nachtrag: Wenn diese Versicherten von der IV-Versicherung in dieser Weise beurteilt werden, dann müssen wir uns klar sein darüber, dass die IV-Versicherung für viele Menschen zwar auf dem Gesetzespapier besteht, in der Realität aber nicht. Im realen Leben sind diese Versicherten gar nicht versichert. Das ist den meisten Schweizerinnen und Schweizern gar nicht klar. Die einen machen die Gesetze so. Die anderen verlassen sich darauf, versichert zu sein und sind es im Ernstfall dann doch gar nicht. Dann ist der Ärger gross.
Fast alle die, die durch diese Masche des sozialen Netzes fallen, fallen ins Netz des Sozialamtes. Das empfinden die Bewohner der Schweiz (Inländer wie Ausländer) als erniedrigender, als Versicherungsleistungen zu bekommen (auf die man glaubt, einen Anspruch zu haben, ohne dass einem Andere dass missgönnen können) und am Ende muss die Gemeinschaft der Steuerzahler und Versicherten doch für die Leistungen aufkommen. Gewonnen ist am Ende kaum etwas. Oder? Nur das Vertrauen in die Gemeinschaft hat gelitten und das Justizsystem hat eine Menge Geld verschlungen. Dafür ist doch die schöne Schweiz mit all ihren Qualitäten viel zu schade. Oder? Könnte es sein, dass auch die betroffenen Menschen für solchen Ärger eigentlich viel zu schade sind? Da schafft man erst eine Versicherung, um sie hinterher einzuschränken und damit die Versicherten zu entsichern. Haben Sie herausgefunden, wer sich hier alles täuscht und worin (einschliesslich mir)?