Pflegeinitiative (11/2021)

Wir Menschen haben es geschafft, unsere Lebenslänge ungefähr zu verdoppeln. Klopfen wir uns gegenseitig auf die Schulter. Das ist doch eine ganz schöne Leistung, oder? Ja, das stimmt! Das ist ein riesiges Plus auf der einen Seite. Könnte es sein, dass dieses Plus an anderen Stellen ein Minus bedeutet? Wenn ja, wo?

Als unsere Lebenserwartung noch im Durchschnitt halb so lang war wie heute, starb man überwiegend an Infektionskrankheiten, jung und relativ plötzlich. Das war schlimm und für die umgebenden Überlebenden oft lebens- und zumindest existenzgefährdend. Die Verlängerung des Lebens bedeutete einen Wandel der Krankheiten. Die Bedeutung der Infektionskrankheiten sank dramatisch und die Verschleiss- und Wohlstandserkrankungen, meist Erkrankungen für den Rest des Lebens, nahmen an Zahl und Bedeutung zu. Sie verkürzen unter unserer Therapie das Leben recht unwesentlich, führen aber am Ende des Lebens zunehmend zu Lebenszeit mit Schmerzen und in Pflegebedürftigkeit. Wir haben uns also gewissermassen die Pflegebedürftigkeit und vor allem deren Ausmass selbst geschaffen.

Leider hat die Evolution in den Millionen Jahren der Entwicklung bis zu uns nicht vorhergesehen, dass wir plötzlich Knochen, Muskeln, Gelenke, Organe für eine doppelt so lange Lebenszeit brauchen könnten, uns wünschten oder davon träumten. Nun haben wir zwar mehr Lebenszeit, aber relativ viele Fehler in unserem Körper (was ja eigentlich angesichts der vielfältigen und erstaunlichen Funktionalität unseres Körpers nicht stimmt, aber am Ende doch nicht ausreicht).

Dieses Ausmass an Pflegebedürftigkeit braucht heute eine viel grössere Anzahl von Pflegenden als damals. Unser Augenmerk liegt heute auf Karriere, Geld, Freiheit, Ferien, Technik. Das mit Menschen sich abgeben, ist nicht unser Ding und schon gar nicht unser Traum(-Job). Das sollen die machen, die nichts Besseres können. Ich kann mehr. Und dann wandern wir in die IT-Branche, in die Wissenschaft und Forschung, in die Politik und Wirtschaft. Am Menschen hat doch heute kaum einer noch Interesse, selbst die Frauen nicht mehr. Wir müssten selbst unser Augenmerk ändern und den Menschen mehr Wert beimessen. Selbst wenn wir das ausdrücklich sagen, beweisen die meisten von uns Menschen, dass sie es gar nicht so meinen. Ändern wir uns doch selbst. Forderungen an Andere stellen (und sei es der Staat oder Gesetzgeber) ist immer einfach, ändert aber schon seit Jahrzehnten nicht wirklich etwas und hat ja auch kaum Chancen etwas zu ändern. Wie bei den kleinen Kindern, bei denen die Augen grösser sind als der Magen, sind bei uns die Träume grösser als die Realität. Wir täuschen uns in unseren Möglichkeiten. Die Anderen sollen mehr pflegen und notgedrungenermassen dafür auch mehr bezahlen.

Die Pflegenden müssen natürlich mehr Geld bekommen. Das müsste dann wirklich eine Menge mehr sein, denn in dreissig Jahren müssen wir als zu Pflegende die entsprechenden Löhne an die dann uns Pflegenden bezahlen. Vielleicht kommen kleine Reallohnveränderungen am Ende heraus. Der Löwenanteil wird nur in die Preissteigerungen fliessen. Die ärgern uns, weil sie alle Errungenschaften zunichte machen und weil wir die hohen Kosten gar nicht bezahlen wollen und vielleicht auch gar nicht können. Dann war das am Ende ein Eigentor. Natürlich treiben immer die Anderen die Preise in die Höhe, wir natürlich nicht.


Pflegeberufe sind selten familienfreundlich. Wie soll das auch gehen? Die Grenzen, die zugunsten der Pflegenden eingezogen werden sollten, müssten ja von den zu Pflegenden gewährt werden. „Liebe Pflegerinnen und Pfleger, damit Sie abends bei der Familie sein können, pflege ich mich abends (und aus Rücksicht am Wochenende auch gleich noch) selber. Da haben Sie frei.“ Glauben Sie, dass das funktioniert? Pflegebedürftige sind keine Schrottautos, die man einfach abstellen kann und je nach Lust und Laune pflegen kann, wann und wie man selbst möchte, noch dazu, wenn man Qualität bieten will. Qualität und Familienfreundlichkeit in Pflegeberufen schliessen sich gegenseitig eher aus. Beides zugleich haben zu wollen, ist wie zum Bäcker gehen, sein Brot kaufen und das dafür auf den Tresen gelegte Geld doch wieder selbst einzustecken. Das klingt irgendwie nicht so clever, oder? Oder gerade clever, denn clevere Leute machen das doch so, nur so, dass die Anderen, zum Beispiel der Bäcker, das nicht merken. Wir dagegen sind so clever, dass wir nicht einmal merken, dass wir uns selbst das Geld aus der Tasche ziehen müssen, dass wir in die andere Tasche stecken. Aber die entsprechenden Gesetze machen wir mal schon.

Pflegequalität ist ein echtes Thema. Weil es an vielen Orten haperte, wurden Qualitätsrichtlinien eingeführt und damit die eingehaltene Qualität auch bewiesen werden kann, wurde eine umfangreiche Dokumentationspflicht eingeführt. Dokumentieren hebt bekanntlich die Qualität, pflegen und Dienst am zu Pflegenden dagegen nicht. Das klingt auch nicht so schrecklich clever. Das Dokumentieren, das die Qualität verbessern soll, verringert stattdessen die Qualität (oder steigert die Kosten, weil mehr Personal für die zur Dokumentation verbrauchte Zeit gebraucht und bezahlt werden muss (so ist es cleverer, nicht wahr, ganz abgesehen davon, dass den Betroffenen die dauernde Dokumentation richtig stinkt?)).

Natürlich, da stimmen wir überein: So, wie es jetzt ist, kann es nicht weiter gehen. Wir müssen etwas tun. Weil wir es selber nicht tun wollen, muss Geld her und sollen Andere die Arbeit machen. So läuft das schon seit mindestens hundert Jahren. Das hat uns an die jetzige Position gebracht. Da dürfen wir doch wirklich hoffen, dass uns diese neuen Änderungen endlich das Problem vom Halse schaffen! Falls wir die Kosten nicht wieder dem Staat (und damit über staatliche Darlehen als Kinderarbeit unseren eigenen Kindern) aufbürden wollen, dann werden wir im Ernstfall selbst für die zusätzlichen Kosten aufkommen müssen. Ich bin gespannt auf unsere Reaktion.


23 November 2021