Ansicht und Recht haben

Ich lebe in der Welt und bekomme ein Bild von der Welt. Mit meinen Augen kann ich die Welt nicht anfassen oder erfassen, selbst wenn ich sie mit meinen Händen in immer kleinere Teile aufgeteilt habe. Mit meinen Sinnen, nicht nur den Augen, kann ich nicht die Welt erfassen, sondern bekomme ich nur ein Bild. Mit den anderen Sinnen bekomme ich einen entsprechenden Sinneseindruck. Die Welt, wie sie ist, kann ich nicht aufnehmen.

Wie gut mein Bild von der Welt, von meiner Umgebung, von Dir, ja, selbst von mir selbst, mit der tatsächlichen Welt, mit meiner tatsächlichen Umgebung, mit Dir, so wie Du bist und mit mir, so wie ich bin, übereinstimmt, kann ich gar nicht überprüfen. Die Welt kann ich nicht fassen, daher auch die Übereinstimmung meines Bildes mit der Welt nicht überprüfen. Hier bleibt ein für mich und für uns Menschen unüberwindlicher Graben oder Spalt (wie man das auch nennen mag). Objektiv ist die Welt unabhängig von mir. Mein Bild ist relativ. Meine Intuition sagt mir natürlich, dass ich Recht habe, schon seit dem 3. Lebensjahr, seit meinem Trotzalter, also dass ich objektiv bin.

Dieses Bild ist aus meiner Perspektive, aus meiner Sicht, aus meiner Position aufgenommen. Es gibt andere Positionen, aus denen man auf die Welt sehen kann, andere Sichtweisen, andere Denkweisen, daher andere Bilder von der gleichen Welt, vom gleichen Gegenstand, von der gleichen Person. Du oder Sie sehen mich anders, als ich mich sehe. Alle diese Bilder haben gemeinsam, dass sie relativ sind, nicht objektiv, nicht die Welt an sich. Die anderen Bilder, die anderen Ansichten, sehe ich nicht, kann ich mir auch nicht vorstellen. Ich kann allenfalls über sie spekulieren. Ich kann mich auch nicht in einen anderen Menschen hineinversetzen. Ich kann nur so tun, als ob oder glauben, ich könnte es, ich täte es. Überprüfbar ist das für mich nicht. Aber da ich ja Recht habe, glaube ich, dass meine Idee von Deinem Inneren mit der Wirklichkeit doch zumindest recht gut übereinstimmt. Von mir selbst glaube ich das natürlich noch viel konsequenter.

Ich kann nicht einmal die Welt interpretieren, nicht einmal am Original arbeiten. Ich kann nur mein Bild interpretieren, an meinem Bild arbeiten, versuchen, das Bild zu verstehen, das Bild in Formen oder Formeln oder Zahlen oder Theorien oder Worte oder Bilder zu giessen. Ich kann nur mit meinem Bild arbeiten. Es besteht also noch ein zweiter Graben oder ein zweiter Spalt zwischen mir und der Realität, der Welt, von dem ich nicht weiss, wie breit er ist, wie sehr er mein Verständnis abwandelt, der zwischen mir und meinem Bild von der Welt, von Dir und von mir ist.

Eine der ersten Eigenschaften, die wir Menschen schon im zweiten bis dritten Lebensjahr, in unserer Trotzphase, entwickeln, die uns zu einem Ich, zu einem eigenen Menschen macht, ist die Entwicklung der Ansicht, der Meinung, des Wissens oder des Glaubens (Ja, was eigentlich?), dass ich Recht habe. Da ist völlig egal, was ich glaube oder was ich glaube, zu wissen. Ich habe ab jetzt Recht. Bald bin ich erwachsen.

Ich entwickle mein Ich in der Abgrenzung zu meinen Eltern, leichter in Abgrenzung zu meinem Vater als in Abgrenzung zu meiner Mutter, dann in Abgrenzung zu den Anderen und parallel in Abgrenzung zur Welt. Es scheint gar nicht anders zu gehen, auch wenn alle Eltern auf brave Kinder hoffen, die sich wenig abgrenzen und auch wenn alle Kinder hoffen und sich danach sehnen, von ihren Eltern geliebt zu werden, nicht ab- oder gar ausgegrenzt zu werden.

In der Pubertät verstärkt sich diese Abgrenzung noch einmal, dieses Anti gegen fast alles. Das ist Ich-Werdung in Abgrenzung und da spielt es fast keine Rolle, was die Eltern glauben und was die Kinder glauben. Hauptsache Abgrenzung, Hauptsache ich habe Recht, das Kind auf jeden Fall, der Vater meist auch, die Mutter meist weniger (zum Glück).

So kann ein gedeihliches Zusammenleben doch fast nur schief gehen? Dann auch noch grenzenlose Freiheit für mich als Kind und wenn möglich, auch als Erwachsener oder als Eltern. Gedeihliches Zusammenleben schmerzt, weil es als Optimum eine Freiheit von 50 % für die Kinder und 50 % für die Eltern zulässt, zusammen 100 %. Ich und Ich oder auch ich und Du müssen laufend Kompromisse schliessen, oft sogar faule Kompromisse. Mehr ist gar nicht möglich, als das Optimum, wenn es gut ist. Besser, mehr, höher, schneller etc. sind dann wieder schlechter, weniger, niedriger, langsamer, nur auf der anderen Seite.

Beim Kompromisse Schliessen habe natürlich meist ich mehr gegeben und weniger bekommen und Du hast mehr bekommen und weniger gegeben. Das ist in der Familie unter Geschwistern so wie zwischen Eltern und Kindern und in jeder Demokratie so, erstaunlicherweise in der direkten Demokratie nicht weniger als in den indirekten. Wenn ich mich von Dir übervorteilt fühle, dann schwöre ich Dir Rache. Die Antwort muss stärker und heftiger sein, einmal aus Rache und damit Du es ja nie wieder wagst, mich zu übervorteilen. Lieber habe doch ich ein bisschen mehr als Du. Aber das verheimliche ich vor Dir, am besten auch vor mir selbst. Das geht nicht? Oh, das üben wir ein Leben lang und wir können es schon so gut, dass wir es tatsächlich gar nicht merken. Deshalb glauben wir es ja nicht.

Damit ist die Entwicklung vorgezeichnet, die wir uns immer anders vorstellen, anders wünschen und auch anders glauben und glauben, dass wir sie anders vorantreiben. Und so kämpfen wir um die Wette ums Haben, um das mehr oder besser als Du, um den Stolz auf unsere Leistungen, ja um Rache (Wir nennen sie Gerechtigkeit). Wenn etwas schief läuft, bist sowieso Du Schuld. Ich doch nicht. Ich habe doch Recht. Das kannst Du mir ruhig glauben.

Das treiben wir bis zum Ausbluten, bis ins Burn out, bis in die Depression nach dem Versagen, bis ins Sinnlose, bis in die Übernutzung von uns selbst, der Anderen und aller Ressourcen. Ich muss mein Gesicht wahren, nicht vor den Anderen, nein, vor mir selbst. Wenn ich mein Gesicht vor mir selbst verliere, dann verliere ich mein Ich in mir selbst. Die Anderen wissen doch sowieso, wie schlecht ich bin, jedenfalls besser, als ich das selbst weiss oder wenigstens glaube.



25 April 2024
wf